Eve & Caleb - 02 - In der gelobten Stadt
irgendeinen Weg geben.«
Der König klopfte zwei Mal an die Tür. »Die Zeit ist um«, rief der Wächter. Er kam herein und warf dabei meinem Vater draußen einen Blick zu. Ich versuchte, Caleb ein letztes Mal zu umarmen, umfasste seinen Hinterkopf, um sein Kinn gegen meine Schulter zu drücken. Ich küsste ihn auf die Wange, spürte die zarte Haut um die Platzwunde, streichelte mit den Fingern über seine Schläfe.
»Du musst dich von hier fernhalten. Versprich mir, dass du das tun wirst«, sagte ich, während mir Tränen in die Augen schossen. Ich wusste, dass er bei der ersten sich bietenden Gelegenheit durch die Tunnel zurückkommen und nach mir suchen würde. »Wir können das nicht noch einmal tun.«
Der Wächter stellte sich neben ihn und zerrte ihn am Arm weg. Caleb beugte sich zu mir, seine Lippen berührten mein Ohr. Er sprach so leise, dass ich es kaum verstehen konnte. »Du bist nicht die Einzige, die in der Zeitung steht, Eve.«
Ich sah ihn an und versuchte, die Bedeutung seiner Worte zu erfassen, doch der Wächter führte ihn schon ab. Während er ihn am Arm zerrte, ließ Caleb sich zurückfallen und versuchte, das Gleichgewicht zu bewahren, seine Augen suchten nach einem Zeichen des Verstehens auf meinem Gesicht.
DREISSIG
Charles legte mir die Hand auf den Rücken. Ich konnte durch mein dünnes Satinkleid spüren, wie seine Finger zitterten. »Stört es dich?«, fragte er mit zögerlicher Stimme. So benahm er sich seit Tagen, ständig wollte er wissen, ob er sich neben mich setzen durfte, ob ich Lust hatte, mit ihm die neuen Pariser Fassaden zu besichtigen oder durch die oberen Stockwerke der Läden im Palast zu flanieren. Dass er ständig um Erlaubnis bat, als hätten wir eine richtige Beziehung miteinander, machte ihn mir noch verhasster. Alles wäre erträglich gewesen, wenn wir darauf verzichtet hätten, uns etwas vorzumachen, und einfach die Wahrheit ausgesprochen hätten: dass ich niemals aus freier Wahl mit ihm zusammen wäre.
»Wenn du das brauchst«, flüsterte ich und drehte mich zu der kleinen Menschenmenge, die sich um uns versammelt hatte. Das Restaurant befand sich im Eiffelturm, einem fast einhundertfünfzig Meter hohen Nachbau des Pariser Originals, die Teppiche waren dick und rot, und durch die Fensterfront konnte man auf die Hauptstraße blicken. Einige Auserwählte saßen an festlich gedeckten Tischen und zerschnitten zarte rosa Steaks. Einige Männer zogen an Zigarren. Durch den weißen Rauch um uns hatte ich den Eindruck, alles durch einen dichten Schleier wahrzunehmen.
Charles nahm meine Hand. Er hatte einen Ring in der Hand, der Diamant funkelte im Licht. Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen. Beim Gedanken an die Endlosigkeit der Zukunft, an die Wochen, die sich dahinschleppen würden wie die vorangegangenen, an den zwangsläufigen Austausch höflicher Floskeln zwischen uns, krampfte sich mein Magen zusammen. Es war nicht seine Schuld – ein Teil von mir wusste das –, aber ich hasste Charles dafür, dass er mitspielte. Er hatte mir jeden Abend beim Essen Gesellschaft geleistet und Geschichten aus dem Leben vor der Epidemie erzählt, wie er die Sommer am Strand in der Nähe des Hauses seiner Eltern verbracht hatte und sich von den Wellen ans Ufer treiben ließ. Er erzählte mir von seinem letzten Projekt in der Stadt. Nie erwähnte er Caleb oder unsere bevorstehende Verlobung – als würde das Totschweigen etwas an den Tatsachen ändern. Egal, was gesagt wurde, egal, wie viel Mühe er sich gab, wir waren nur zwei Fremde, die sich gegenübersaßen und auf eine schreckliche unvermeidliche Kollision zusteuerten.
So ging es seit acht Tagen. Der König war noch einmal mit mir ins Gefängnis gefahren, um mir Calebs leere Zelle zu zeigen. Er hatte mir auf der Karte den genauen Ort gezeigt, an dem Caleb freigelassen worden war – eine verlassene Stadt etwas nördlich von Califia namens Ashland. Ich hatte über den Bildern gebrütet, die sie von der Freilassung gemacht hatten – sie waren mein einziger Beweis, dass sie tatsächlich stattgefunden hatte. Man sah Caleb schon fast im Wald, einen Rucksack auf dem Rücken, sein Gesicht war nur im Profil zu erkennen. Er trug dasselbe blaue Hemd, das er bei unserem letzten Treffen getragen hatte. Ich erkannte die Flecken auf dem Kragen wieder.
Seine Worte verfolgten mich noch immer. Ich hatte jeden Tag in der Zeitung nachgesehen und darauf gewartet, dass etwas außerhalb der Stadtmauern passiert war, dass man Caleb – trotz
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