Everlasting
Historiker. Das weißt du ja.»
«Unterrichtest du?»
«Nein. Ich arbeite … für eine … Institution. Ich entschlüssele alte handschriftliche Texte und übersetze sie ins Englische.»
«Wow. Wie alt denn?»
Ich schluckte schwer. «Sehr alt. Zweihundert. Zweihundertfünfzig Jahre alt.»
«Echt? Kannst du Altdeutsch lesen? Kurrentschrift? Sütterlin und so?»
Ich wollte nicht lügen – ich nickte nur kurz.
«Und welche Art von Texten?», wollte sie wissen. «So was wie Goethes Briefe? Oder die von Schiller? Heinrich Heine?»
«Überwiegend von ganz normalen Menschen. Niemand Berühmtes. Sachen, die gefunden wurden. Dokumente. Tagebücher.»
«Du liest die Tagebücher von anderen Leuten?» Ihre Augen weiteten sich. «Ihre ganz privaten Gedanken?»
«Ja.»
«Unveröffentlichte Tagebücher? Dinge, die sie für sich behalten haben?»
«Manchmal. Ja. Und ich recherchiere das Leben der Verfasser und auch der Menschen, die erwähnt werden. Versuche, herauszufinden, wie sie gelebt haben. Woran sie geglaubt haben. Ich möchte verstehen, wie sie die Welt und die Menschen um sich herum geprägt haben.» Ich hatte noch nie groß darüber nachgedacht, aber ja, genau das wollte ich wissen. Hatten sie etwas bewirkt, etwas verändert? Wenn auch nur in ihrem kleinen Rahmen?
«‹Verstehen, wie sie die Welt und die Menschen um sie herum geprägt haben.›» Eliana wiederholte meine Worte nachdenklich, prüfend. «Ich denke, das möchte eigentlich jeder. Wichtig für die Welt sein. Etwas bewirken. Jeder auf seine eigene bescheidene Art.» Sie lächelte mich an.
«Du hast recht», sagte ich. Und das hatte sie. «Das möchte ich auch.»
«Aber es ist schon ein bisschen gruselig», sagte sie nachdenklich. «Als wärst du ein Stalker. Von Toten. Der ihre privaten Gedanken liest. Ihnen in den Kopf schaut. Sie verfolgt.»
Wenn sie nur wüsste, wie nah sie der Wahrheit damit kam. «Ja. Kann sein. So kann man es auch sehen – als Stalking.»
«Ein Raubtier, der über arme unschuldige Literaten herfällt, gierig ihre –» Sie verstummte mitten im Satz, blinzelte und nahm dann meinen Kopf in beide Hände. «Du hast noch immer dieses Haar am Kinn.» Sie küsste es.«Wie kriegst du den eigentlich so hin? Diesen Bartschatten.»
«Gehört das auch zu deinem Verhör?»
«Allerdings.»
Ich räusperte mich und strich mir dann über die Wange. «Das nennt sich ‹bestoppeln›. Ich bin zum Friseur gegangen, er hat etwas einmassiert, eine chemische Tinktur. Dann hat er einen Zauberspruch gebrabbelt. Und am nächsten Morgen bin ich so aufgewacht.»
Sie verdrehte die Augen.
Ich küsste ihr Ohr, knabberte an ihrem Ohrläppchen, atmete ihren Duft ein, ihre ganz eigene Mischung aus Schweiß und Everlasting, küsste ihren Mund, schmeckte Camembert.
«Ich bin übrigens auch eine Stalkerin», sagte sie. «Deine. Ich habe dich gegoogelt. Aber ich habe nichts gefunden. Bloß das amerikanische Kaufhaus, Nordstrom. Du bist nicht mal bei Facebook.»
Ich zuckte die Achseln.
«Dann gehörst du also zu diesen arroganten Klugscheißern, die nicht an Facebook glauben?», sagte sie.
War Facebook etwas, an das man glauben oder nicht glauben musste?
«Du denkst, wir sollten unsere Zeit nicht damit verschwenden, hä?», sagte sie, hob ihr Haar an und steckte es mit einer Spange fest, die sie aus ihrer Tasche angelte. «Ich schwitze.»
«Nun ja …», setzte ich an.
«Vermutlich hast du recht», sagte sie und ließ sich quer übers Bett fallen. Ihr Kimono rutschte hoch und enthüllte ihren Po. Ich streichelte die Rückseite ihrer Schenkel und sah, dass sie Gänsehaut bekam. Sie drehte sich aufden Rücken und schlug meine Hand weg. «Das Verhör ist noch nicht zu Ende. Wieso stehst du eigentlich so auf Deutsch? Wenn du mich fragst, ist es eine aussterbende Sprache.»
«Ich denke, da hast du recht.»
«Vielleicht fang ich an, Chinesisch zu lernen.»
«Gute Wahl», nickte ich.
«Eines Tages bist du also aufgestanden und hast gesagt: ‹Ich glaube, ich lerne jetzt Deutsch, diese aussterbende Sprache›?»
«Meine Eltern konnten Deutsch. Und meine Mutter hat uns viel auf Deutsch vorgelesen. Und wir hatten Freunde in Kanada, die Deutsch gesprochen haben. Wir haben sie jedes Jahr besucht.»
«Dann ist deine Mutter Deutsche?»
«Unsere … Vorfahren kamen aus Deutschland.»
«Vorfahren? Meinst du deine Großeltern? Sind sie vor dem Zweiten Weltkrieg ausgewandert? Mussten sie emigrieren?»
«Also –»
Sie setzte sich auf.
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