Everlasting
mir fragte sich, ob wir wohl wirklich glücklich wären. Meine große Fähigkeit, handgeschriebenes Deutsch zu entziffern, und mein Spezialgebiet – die Vorzeit des Dark Winter – wären völlig nutzlos in Deutschland der Jahrtausendwende. Würde ich Ar–
«Hallo?», sagte eine Stimme.
Ich machte die Augen auf. Die Tür zur Memoscanner-Kabine stand offen, und Yuka Shihomi lugte herein. «Tagträumereien?», fragte sie.
Hatte Rouge ihr erzählt, ich würde tagträumen?
Ich trat aus dem Memoscanner. «Ist das so erstaunlich? Was habt ihr Quants denn bloß gegen ein bisschen phantasievolles Nachdenken?»
Sie wurde rot. «Nichts. Absolut nichts. Ganz im Gegenteil. Diese Ärztin ist sogar fasziniert.»
«Sie sind kein Quant?»
«Doch. Aber auch Fachärztin für Zeitreisemedizin.»
Ärzte, so dachte ich, waren etwas aufgeschlossener als reine Quants. «Träumen ist gut für den Körper. Das sollten Ärzte wissen», sagte ich etwas neckisch.
Sie rang nervös die Hände. «Möchten Sie das ausführlicher erörtern? Vielleicht beim Abendessen?»
Beim frühen Abendessen unterhielten sich Yuka Shihomi und ich über unsere Arbeit, aber ich glaube nicht, dass ich ein besonders guter Gesprächspartner war. Ich war abgelenkt. Der Bernsteinring ging mir durch den Kopf: Wo konnte ich Fusseln finden, um seine Echtheit zu prüfen? Von meiner Kleidung konnte ich keine abzupfen. Unsere modernen Kleidungsstoffe hatten keine Fasern, die sich aus dem Gewebe lösten. Aber vielleicht kam ja einer von den Dienstrobotern im Rubik irgendwo in Kontakt mit Fusseln. Ich hatte mir gerade eine B B-Notiz gemacht, Joe-Joe den Hausmeister danach zu fragen, als mir einfiel, dass die Werkzeugkiste meiner Mutter auch einen Beutel mit Fusseln aus einem Papierherstellungsset enthielt. Und ein Wolltuch war auch darin.
Als ich nach Hause kam, holte ich die Fusseln und das Tuch heraus und nahm dann das Onyx-Kästchen genau in Augenschein. Es musste zwar gründlich gereinigt werden, sah aber genauso aus wie das Kästchen in Zingst. Ichnahm den Deckel ab und betrachtete den Füllfederhalter. Ja, es war derselbe, nur ein Platinsternchen und einige Buchstaben der Gravur fehlten. Und daneben lag der Bernsteinring. War er echt oder nicht? Ich legte Fusseln auf den Tisch, rieb mit dem Wolltuch über den Bernstein des Rings und hielt ihn an die Fusseln. Nichts passierte. Ich wiederholte den Vorgang, aber der Ring zog die Fasern einfach nicht an. Also bestand der Stein aus irgendeinem Kunststoff des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Was mochte Robert (alias Florian) veranlasst haben, ihn zusammen mit meinem Füllhalter in Elianas Kästchen bis nach Amerika mitzunehmen? Hatten diese Gegenstände eine sentimentale Bedeutung für ihn gehabt? Ich betrachtete die im Ring eingeschlossene Biene. Vielleicht war auch sie nicht echt? Wenn sie kein Fossil war, warum war sie dann darin? Barg sie noch etwas anderes? Das Datum auf dem Ring lautete: 20. 08. 2018. Das war zehn Tage, bevor der Bioangriff ausgelöst wurde, mit dem die Dark-Winter-Zeit begonnen hatte. Bestand da ein Zusammenhang?
Ich räumte das Kästchen mit dem Füllhalter und dem Ring zurück in die Schublade, öffnete ein Schränkchen und holte den großen kurzhalsigen Glasflakon mit Everlasting heraus. Ich nahm den Deckel ab, schloss die Augen und atmete den Duft ein, bis mir schummrig wurde. Ich sehnte mich nach Eliana. Ganz furchtbar. Wann würde ich sie wiedersehen? Womöglich würde die nächste Reise nach Berlin – Landetermin: 8. September 2011 – erst in einem Jahr stattfinden. Oder vielleicht auch nicht. Ich würde Rouge morgen bei dem Debriefing danach fragen.
Ich besprühte mein Kopfkissen mit Everlasting, verschloss den Flakon sorgfältig, und schlief ein.
Am nächsten Morgen weckte mich Rouge mit einer Tasse Pu-Erh-Tee. «Yuka Shihomi hat sich gemeldet», sagte sie. «Sie wollte dich nicht aufwecken. Sie meinte, sie hätte gestern Abend vergessen, dir zu sagen, dass du die nächsten paar Tage keine Zings oder Spicer trinken solltest. Und vor allem nicht heute. Sie hat gesagt, Pu-Erh-Tee sei am besten.»
«Das ist ja was ganz Neues», sagte ich.
«Der Tee?»
Ich setzte mich auf. «Nein. Dass du ihn diesem Freund direkt ans Bett bringst. Und dass Ärzte persönliche Gesundheitsempfehlungen geben. Nett gemeint von ihr – aber nein danke. Pu-Erh schmeckt wie Schlamm.»
Rouge kicherte. «Riecht auch so. Aber sie hat gesagt, er würde deine Konstitution nach so einer
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