Everlasting
gehört hätte. «Wie spät ist es hier?», fragte ich stattdessen.
«Etwa zwei Stunden, nachdem Sie uns verlassen haben. Es ist noch immer Donnerstag, der 1. Juni 2265 – 13.37 Uhr, um genau zu sein.»
Innerhalb von zwei Stunden hatte ich eine ganze Woche durchlebt. «Wäre es eigentlich möglich zurückzukehren,
bevor
wir aufgebrochen sind?»
Ich dachte an meinen Füllfederhalter. Ich hatte ihn bei Eliana gelassen und ihr erklärt, dass er bei ihr besser aufgehoben wäre, weil ich in den kommenden vier Wochen viel unterwegs sein würde. Wenn mein Füllhalter an zwei Orten gleichzeitig sein konnte, bei Eliana im August 2011 und im Rubik im Juni 2265, konnte ich dann auch an zwei Orten gleichzeitig sein? Ich war vor zwei Stunden ins Jahr 2011 gereist, um 11.30 Uhr. Was wäre, wenn sie mich nicht um 13.37 Uhr zurückgeholt hätten, sondern früher, um 9.00 Uhr? Hätte ich mir dann selbst begegnen können, wie ich mich gerade auf die Reise vorbereitete?
«Um diese Frage zu beantworten, Mr. Nordstrom, sind mathematische Kenntnisse erforderlich, über die sie nicht verfügen. Der langen Rede kurzer Sinn: Nein, Sie können nicht zurückkommen, bevor Sie abgereist sind.» Er legte einen Arm um mich. «Leider können wir momentan nicht genauer auf das Thema eingehen. Setzen wir diese Diskussion doch auf unsere To-do-Liste, ja? Jetzt geht es erst mal nur darum, dass Sie sich eingewöhnen, untersucht werden und möglichst schnell ins Memolabor kommen.» Erschaute mir prüfend ins Gesicht. «Sie haben etwas Farbe bekommen. Schön für Sie.» Er sah Rouge an. «Wann ist Mr. Nordstroms Debriefing, Mademoiselle Moreau?»
«Morgen Nachmittag.»
Er wandte sich mir wieder zu. «Mr. Nordstrom, der Direktor der Europäischen Bibliothek, Dr. Dr. Sriwanichpoom, lässt Ihnen ausdrücklich alles Gute bestellen und hofft, Sie morgen in seinem Büro zu sehen. Sobald Sie Ihren BB hochfahren, werden Sie die offizielle Einladung mit der genauen Uhrzeit vorfinden.»
Der Professor musste in eine Besprechung und konnte mich daher nicht persönlich untersuchen. Seine Mitarbeiter bugsierten mich ins Untersuchungszentrum, um die übliche Serie von Tests durchzuführen. Diesmal wurden sie von Grossmanns persönlicher Assistentin, Dr. Yuka Shihomi, vorgenommen. Ich hatte sie schon öfter gesehen – wie sie hinter dem Professor durch die Gänge hastete und sich dabei immer dicht an der Wand hielt, als hätte sie Angst davor, ihre Deckung aufzugeben, oder wenn sie mich gemeinsam mit dem Professor untersuchte. Heute hörte ich zum ersten Mal mehr von ihr als ein leises «Guten Morgen» oder «Professor Grossmann möchte Sie jetzt sehen» oder «Bitte nach links drehen». Yuka plapperte munter drauflos, als sie mich ins Memolabor führte und die Techniker mich zum Scannen vorbereiteten. Während man meine Erinnerungen herunterlud, gingen meine Gedanken auf Wanderschaft.
Elianas Vater, Rudolf Lorenz, machte mir Kopfzerbrechen. Manchmal schien er anzudeuten, dass er wusste, wer ich in Wirklichkeit war – aber wie konnte er das? Vielleicht spürte er lediglich, dass ich anders war. Vielleicht deutete ich auch einfach zu viel in seine Worte hinein.Dennoch, während unseres letzten Gesprächs hatte er mir sehr engagiert nahegelegt, eine Rückkehr nach Berlin in Erwägung zu ziehen, und nicht bloß im September, sondern auf Dauer. «Ein junger Mann wie du hätte keine Probleme, hier Arbeit zu finden», hatte er gesagt. «Ich würde dir helfen, Fuß zu fassen. Was hast du denn zu verlieren?»
Ich hatte viel zu verlieren: meine Bewegungsfreiheit, mein Zuhause auf Fire Island, meine Art zu leben, meine Arbeit, meine Freunde und wahrscheinlich auch meine Unsterblichkeit. Gewinnen würde ich Liebe – vielleicht das größte Geschenk überhaupt –, aber nach allem, was ich je über die Liebe gelernt hatte, war sie unberechenbar. Konnte ich wirklich alles aufgeben und ihr einfach nur blind vertrauen? Der Gedanke war mir in dem Moment absurd vorgekommen. Ich hatte Rudi gedankt und es dabei belassen.
Doch auf der Zugfahrt zurück nach Berlin, als Eliana mit dem Kopf auf meiner Schulter schlief, hatte ich mich dabei ertappt, wie ich mir ein Leben mit ihr ausmalte. Ein Teil von mir stellte sich ein sonniges Zuhause vor, voll mit knuddeligen, lustigen Kindern, die nicht in dem Glauben erzogen werden würden, dass bedächtiger Pragmatismus der einziger Weg zu einem ausgeglichenen Leben war. Aber ein anderer Teil von
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