Everlasting
sechswöchiges Praktikum im Forester-Geschenkeladen abgeschlossen. Er war dabei, das Druckerhandwerk seines Vaters von der Pike auf zu lernen, vom Holzfällen für das Papier über die Buchrestaurierung und die Buchherstellung bis hin zum Ladenverkauf.
Finn kannte Raoul praktisch schon sein ganzes Leben. Wenn Artu Nordstrom einmal im Jahr in die kanadische Forester-Kolonie Sternwood Forest reiste, nahm er Finn und Mannu jedes Mal mit und setzte sie bei Lilly und Marty Aaronson und ihrem Sohn Raoul ab. In diesen Tagen waren die Jungs dann unzertrennlich. Als Kinder hatten sie miteinander gespielt oder waren in einem der vielen Seen in der Gegend geschwommen. Später, als Jugendliche, unternahmen sie lange Wanderungen, schauten sich alte Zelluloidfilme an und flirteten mit den Forester-Mädchen. Raoul, dessen Vorfahren aus Österreich stammten, konnte das tote Deutsch ebenso gut lesen und sprechen wie die Nordstrom-Jungs. Finn und Mannu hörten die Forester mit den veralteten Formen der ersten Person Singular sprechen. Die Forester sagten «ich» und «mich» und «mein», und die Nordstrom-Jungs gewöhnten sich daran, diese Wörter zu hören, hätten es aber nie versucht, sie selbst in den Mund zu nehmen.
Draußen vor dem Panoramafenster pfiff der Wind. Der Himmel war jetzt von einem pudrigen Blau, durchsetzt mit orangegelber und roter Seide. Das Alpenglühen müsste jeden Moment anfangen, dachte er, und dann würde der Schnee fallen. Seine Urgroßmutter mütterlicherseits, Lola, hatte immer gesagt, dass der Schnee, den sie als Kind in den Rockies erlebt hatte, feiner gewesen sei als der Schnee, der von den World Weather Works ausgelöst wurde. «Esgibt drei Dinge, die man niemals zähmen sollte», hatte sie einmal zu Mannu und ihm gesagt: «Die Phantasie der Kinder, ein wildes Pferd und das Wetter.» Aber Urgroßmutter Lola wusste ebenfalls, dass sie den Fortschritt nicht aufhalten konnte. Die meisten Naturkatastrophen gehörten inzwischen der Vergangenheit an – und das war gut so. Natürlich gab es noch viele Regionen, in denen es völlig unnötig war, das Wetter zu manipulieren, aber ein Feriengebiet wie die Alpen stand während einiger Monate im Jahr unter ständiger Kontrolle. Urlauber wurden tagsüber mit Sonne verwöhnt und nachts mit Schnee. An einem Tag wie diesem, der Wintersonnenwende, schneite es als besondere Überraschung schon bei Sonnenuntergang. Um 16 Uhr 22.
In der hereinbrechenden Dunkelheit sah Finn eine Familie von der Piste zurückkehren: Mutter, Vater und zwei Mädchen. Er konnte schwach das muntere Geplapper der Kinder hören. Er verstand «Kakao. Heißer Kakao!», und das jüngere Mädchen rief: «Mit Schlagsahne!», sprang hoch und klatschte in die Hände. Sie rannte im Kreis um ihre Eltern und ihre Schwester herum und jauchzte vor Freude, bis ihr Vater sie hoch nahm und auf seine Schultern setzte.
Finn schnürte sich der Hals zu. Fast vier Monate waren vergangen, und da war er wieder: der Schmerz. Er würgte ihn herunter – dafür musste er ein paar Mal trocken schlucken – und konzentrierte sich dann wieder auf das Buch in seinen Händen.
Djatengs Illustrationen, seine kräftigen Farben, Orange und Türkis, wirkten auf Papier viel lebendiger als auf dem BB. Raoul Aaronson hatte damals ausgezeichnete Arbeit geleistet. Er fand es tröstlich zu wissen, dass Mannu, Luluund sogar Majida, seine Freundin aus Kindertagen und erste Sexpartnerin, ebendiese Seiten durchgeblättert hatten. Sie waren nun Teil dieses Buches. Es hatte eine Geschichte, wie sie kein B B-Dokument je würde haben können. Er schlug die Seite 47 mit dem Fleck von einer Tasse Spicer auf. Das war damals in einem verrückten Beijinger Café in der Nähe der Uni-PADs passiert, als Mannu ihn besucht und zu tief ins Glas geschaut hatte. Und da waren die Markierungen und Unterstreichungen, die Lulu gemacht hatte. Sie hatte ihre Lieblingspassagen mit einem gelben Marker aus der Werkzeugkiste ihrer Mutter angestrichen. Er war außer sich gewesen. Er erinnerte sich, wie er die dreizehnjährige Lulu angebafft hatte: «Du hast es verschandelt!», worauf sie in Tränen ausgebrochen war. Er hätte sich beherrschen sollen. Heute tat es ihm gut zu wissen, dass Lulu das Buch gemocht hatte. Eigentlich gehörten die gelben Markerstriche genau da hin, wo sie waren.
Finn spürte eine jähe Veränderung draußen, eine Stille, die sich über alles herabsenkte, wie wenn ein Dirigent den Stab hebt und das Publikum verstummt und auf den
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