Evermore Bd. 6 - Für immer und ewig
Jahrhunderten durchexerziert haben – nur um in eine ähnliche Falle zu tappen, eine moderne Version einer nahezu identischen Existenz zu wiederholen.
Ich sehe auf den Fluss, verfolge, wie er klar wird und die Bilder sich rasch auflösen. »Warum wussten wir das nicht?«, frage ich. »Warum machen wir immer wieder dieselben Fehler?«
Ich sehe Lotos an, deren Augen so schmal werden, dass sich rechts und links der Augenwinkel Fältchen bilden. Mit tiefer, gravitätischer Stimme antwortet sie mir: »Das ist die Bürde des Menschen. Auch wenn die Schuld zum Teil beim Fluss liegt«, sagt sie und zeigt rasch auf das fließende dunkle Wasser vor uns, »beruht es doch zum größten Teil auf der
Neigung des Menschen, in den Lärm einzutauchen, der überall um ihn herum tost, statt auf die herrliche Stille tief in seinem Inneren zu lauschen.«
Ich blicke auf den Fluss hinaus und drehe und wende ihre Worte in Gedanken hin und her, bis ich begreife, dass sie alles widerspiegeln, was ich soeben gelernt habe. Wir verbringen unser Leben damit, uns in die falschen Dinge zu verbeißen – lassen uns von unserem Verstand und unserem Ego in die Irre führen und betrachten uns als getrennt von anderen, anstatt auf die Wahrheit zu hören, die in unseren eigenen Herzen liegt, die Wahrheit, dass wir alle verbunden sind, dass wir alle in einem Boot sitzen.
»Das Universum ist geduldig«, sagt sie. »Es bietet uns vielfältige Möglichkeiten an, damit wir lernen und es begreifen können, und genau deshalb werden wir auch wiedergeboren. «
»Dann ist es also wahr. Damen und ich haben früher schon einmal als Adelina und Alrik gelebt.« Ich sehe sie an, und sie nickt bestätigend. »Und ich nehme an, er ist in diesem Leben gestorben – den Tod eines Sterblichen?« Mein Blick wandert über ihr silbernes Haar, hinab zu der langen, weißen Tunika mit den goldenen Stickereien, bis ganz hinunter zu ihren erstaunlicherweise nackten Füßen, doch es dauert einen Moment, ehe ich registriere, dass der Stock verschwunden ist, den sie letztes Mal benutzt hat. Sie kann ohne Stütze stehen.
»O ja«, sagt sie. »Er ist gerade darin gefangen. Erlebt den Augenblick noch einmal. Doch es müsste bald vorüber sein.«
Ich presse die Lippen aufeinander, fummele am Saum meines T-Shirts herum und überlege. Eigentlich habe ich keinen Grund, ihr nicht zu glauben, doch da ist noch etwas,
was nicht zusammenpasst, etwas, was sie mir noch erklären muss.
»Aber wenn das alles wahr ist, warum hat dann keiner von uns dieses Leben gesehen, als wir gestorben und ins Schattenland gekommen sind? Und warum hat Jude es bei keinem seiner Besuche in den Großen Hallen des Wissens gesehen? Tut mir leid, Lotos, aber so real es auch alles gewirkt hat, es ist einfach unlogisch.«
Obwohl ich am Ende die Stimme erhebe, obwohl ich mich ein bisschen zu heftig für meine eigenen Einwände erhitze, bleibt Lotos ruhig und gelassen und antwortet mir völlig ungerührt. »Du kennst doch das Sprichwort: ›Wenn der Schüler bereit ist, kommt der Lehrer‹?«
Ich nicke und erinnere mich, dass Jude das einst zu mir gesagt hat.
»Genauso ist es mit Wissen. Die Wahrheit kommt ans Licht, wenn du bereit bist, sie zu empfangen, wenn du sie brauchst, um voranzuschreiten, den nächsten Schritt auf deiner Reise zu tun und deiner Bestimmung entgegenzugehen. Du hast dieses Wissen vorher weder gebraucht, noch warst du dafür bereit. Und so hast du nur das gesehen, was du wissen musstest, und kein Fitzelchen mehr. Doch jetzt, da du bereit bist, wurde das Wissen enthüllt. Jeder Schritt führt zum nächsten. So einfach ist das. Und das Gleiche gilt für Damen und Jude.«
»Und was ist mit Jude? Steckt er auch immer noch in dieser Lebensspanne fest?«
Lotos nickt und blickt in die Ferne. »Jude ist auf seiner eigenen Reise. Vielleicht wirst du ihn eine Weile nicht zu Gesicht bekommen. Aber du wirst ihn eines Tages wiedersehen. Keine Angst.«
Mein Blick wandert über den Fluss, und ich bemerke,
dass er dunkler, trüber geworden ist, und bin froh, dass ich sicher an seinem Ufer stehe und nicht so nah am Wasser. »Und das war’s dann also?« Ich wende mich zu ihr um. »Ist das die Reise? Ist sie vorüber – habe ich vollbracht, worum du mich gebeten hast?«
Lotos schüttelt den Kopf, und ihre wässrigen Augen blicken in meine. »Das war erst der Anfang, die erste Prüfung von vielen. Es liegt noch vieles vor dir. Du musst noch mehr entdecken.«
Und ehe ich fragen kann, was das heißt, ehe
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