Evermore Bd. 6 - Für immer und ewig
sein Herz beschwert, vertreiben zu können. Auf einmal werden seine Augen weit, er setzt sich kerzengerade auf und sieht sich mit neuer Wachsamkeit um. »Das ist der Fluss des Vergessens«, sagt er.
Ich blinzele und erinnere mich vage, dass er einen solchen Ort schon einmal erwähnt hat – irgendetwas über die Seele, die den Fluss des Vergessens hinabfährt, ehe sie ins nächste Leben wiedergeboren wird. Dass der Zweck dieser Reise der ist, dass wir uns nicht mehr an das erinnern, was vorher war – dass wir uns an die Leben, die wir bisher gelebt haben, nicht mehr erinnern sollen – dass jede Wiedergeburt eine neue Reise der Selbstentdeckung darstellt, eine Chance, unsere früheren Irrtümer zu korrigieren, unser angesammeltes Karma ins Gleichgewicht zu bringen und neue Lösungen für alte Probleme zu finden.
Dass das Leben keine Prüfung mit Hilfsmitteln ist.
Ich weiß noch, dass Lotos etwas ganz Ähnliches gesagt hat – dass die Narretei des Menschen, seine Neigung, immer wieder dieselben Fehler zu machen, zum Teil dem Fluss angelastet werden kann. Ich nehme das als Beweis dafür, dass Damen Recht hat. Genau das glaubt er nämlich auch. Obwohl kein Mensch ahnt, wohin das alles führen soll.
»Müssen wir sie alle noch mal durchleben?«, fragt Damen, und seine Stimme verrät einen massiven Widerwillen, da er absolut keine Lust hat, die kummervollen Jahre in Florenz noch einmal durchzumachen.
Bevor er sich von dem Gedanken allzu sehr herunterziehen lassen kann, sehe ich ihn an und sage: »Nein. Es ist eine Prüfung. Wir müssen tun, was wir können, um nicht alles zu vergessen, was wir gelernt haben. Lotos ist kurz vor deinem Eintreffen zu mir gekommen und hat gesagt, dass Wissen dann preisgegeben wird, wenn wir es brauchen, und das heißt, wir müssen uns an alles klammern, was wir gerade gesehen haben. Wir dürfen keinen einzigen Moment vergessen. Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass wir es für später brauchen werden.«
»Da müssen wir uns aber eine ganze Menge merken«, sagt er stirnrunzelnd. »Der Fluss ist tückisch. Und abgesehen davon, dass ich in den letzten paar Hundert Jahren ziemlich viel Mist gebaut habe – und zum Beispiel Ava und den Zwillingen übel Unrecht getan habe, indem ich ihnen das Leben genommen habe –, was würdest du mir empfehlen, worauf ich mich konzentrieren soll? Es ist doch gut möglich, dass wir uns, wenn wir dieses Boot verlassen und in unsere normalen Leben zurückkehren, an nichts von dem erinnern, was wir gerade erlebt haben.«
Ich gönne mir einen Moment, um über meine Antwort nachzudenken, zum einen, weil ihm vielleicht nicht gefallen wird, was ich sagen werde, und zum anderen, weil ich immer noch darüber staune, dass er die Antworten von mir erwartet. Ich hole tief Luft und riskiere einen Rundumblick, ehe ich mich wieder ihm zuwende. »Du darfst nicht vergessen, dass die Seele unendlich ist«, sage ich. »Dass Liebe nie stirbt. Und dass dein Versäumnis, das zu erkennen, deine Bindung an die physische Welt, genau das ist, was uns beide hierhergebracht hat – bis zu diesem Punkt.«
So, jetzt hab ich es gesagt. Es ist seine Schuld. Doch meine Stimme klingt nicht vorwurfsvoll. Er ist nicht der Erste, der diesen Fehler gemacht hat. Wie Lotos schon gesagt hat, es ist die Narretei des Menschen. Damen ist nur einer der wenigen, denen es tatsächlich gelingt, dem körperlichen Tod ein Schnippchen zu schlagen – zumindest für eine Weile.
»Dann, später, wenn wir das alles hinter uns haben und dort ankommen, wo … na ja, wo auch immer wir ankommen, werden wir das Wissen brauchen, um herauszufinden, wie wir das rückgängig machen können, was wir getan haben – die Fehler, die wir gemacht haben«, füge ich hinzu.
Dabei fließen mir die Worte so schnell und leicht über die Zunge, dass es ist, als kämen sie von einem anderen Ort, aber in meinem tiefsten Inneren, aus dem Bauch heraus, weiß ich einfach, dass sie wahr sind. »Das ist meine Reise«, erkläre ich nickend, denn auf einmal weiß ich es sicher. »Das ist die Wahrheit, die ich ans Licht bringen soll. Aber wie?« Ich sehe ihn an und versuche die Frage zu beantworten, die ihm auf die Stirn geschrieben zu sein scheint. »Ich weiß es zwar nicht sicher, aber ich hege keinerlei Zweifel daran, dass genau das meine Bestimmung ist.«
Damen sieht mich mit verkrampften Gesichtszügen an. Er ist hin- und hergerissen, doch er hält sich an sein Versprechen, meinen Vorgaben zu folgen.
Ich suche zwar noch
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