Evermore Bd. 6 - Für immer und ewig
neben meinem. Sie greift mir sacht unters Kinn, umfasst meinen Hinterkopf und zieht mich hoch, während sie mir etwas Hartes und Kaltes auf den Mund presst. Dann zwingt sie mir eine kühle, bittere Flüssigkeit über Lippen und Zunge, die mir schließlich durch die Kehle rinnt, während ich mich nach Kräften dagegen wehre. Doch es ist zwecklos, ich komme nicht dagegen an. Ich bin starr, gelähmt, meine Gedanken sind in mir eingeschlossen, und ich habe keine Handhabe, ihnen zu sagen, dass sie aufhören sollen – dass sie sich vergeblich abmühen.
Es ist zu spät.
Es wird nicht klappen.
Meine Energie konzentriert und verdichtet sich und schrumpft zu einer kleinen pulsierenden Kugel aus Farbe und Licht zusammen. Sie bereitet sich darauf vor, sich aus mir zu erheben und aufzusteigen – aus dem zentralsten Teil meines Schädels zu entschwinden und in das einzugehen, was bereits im Jenseits liegt.
Nach wie vor wuseln sie alle um mich herum, schreien und gestikulieren und beweisen damit, dass ich mir als
Einzige der Tatsache bewusst bin, dass ich kurz vorm Dahinscheiden bin.
Dieses Leben nähert sich dem Ende.
Ich werde nicht wiederkehren – zumindest nicht in dieser Form.
Meine einst blinden Augen sind auf einmal erfüllt von der Vision eines herrlichen goldenen Schleiers, mit dem ich sehnlichst verschmelzen will. Dennoch ringe ich darum, nur noch ein paar Sekunden länger durchzuhalten – ich muss Alrik erreichen, muss ihn davon überzeugen, dass alles gut wird.
Auf meiner Zunge liegt der bittere Geschmack des nutzlosen Gebräus, das sie mir unbedingt einflößen mussten. Sie vergeuden wertvolle Zeit, indem sie sich auf Absurditäten konzentrieren, obwohl es doch weitaus Wichtigeres gibt.
Alrik! Ich konzentriere mich mit dem letzten Gewicht meines Daseins auf seinen Namen. Alrik, bitte, hörst du mich?
Doch mein Flehen trifft auf taube Ohren. Er hört nichts.
Seine Aufmerksamkeit ist ganz von seinem Schmerz überdeckt.
Und jetzt ist es zu spät.
Ich kann den Sog nicht mehr ignorieren. Kann nicht mehr länger dagegen ankämpfen. Will es auch nicht mehr. Und so tue ich meinen letzten Atemzug und lasse mich davontreiben. Ich schwebe fast oben an der Decke und blicke auf die Szene herab. Ich sehe Heath, vom Schmerz niedergedrückt und mit gesenktem Kopf, während mir die ältere Frau immer noch das Elixier einflößt und ihre beiden jungen Lehrmädchen, die sich dermaßen ähnlich sehen, dass ich wette, es sind ihre Töchter, über mir wachen und endlose Wortkaskaden wispern, die ich nicht entschlüsseln kann. Und schließlich Alrik, mein geliebter Alrik, der verzweifelt
nach der Hand greift, an der mein Ehering steckt, und vergeblich nach Lebenszeichen sucht, die nicht mehr existieren.
Er stößt einen markerschütternden Schrei aus, als er die Wahrheit begreift.
Mein Körper ist nur noch eine unbewohnte Hülle.
Meine Seele wurde befreit.
Er schickt alle hinaus, da er mit seinem Schmerz allein sein will. Erstarrt, gebrochen, am Boden zerstört, wirft er sich über mich. Seine Lippen suchen meinen Mund, verzweifelt sucht er mich zurückzuholen, da er das, was er in seinem tiefsten Inneren bereits als die Wahrheit erkannt hat, nicht akzeptieren kann.
Er ist so in seinen Kummer verstrickt, dass er gar nicht spürt, wie ich direkt neben ihm knie und ihn zu erreichen suche. Ich will ihn unbedingt einer Tatsache versichern, die er noch nicht einmal ansatzweise ahnt – dass ich nämlich gar nicht weg bin – dass ich ihn nie wirklich verlassen werde – dass der Körper welken mag, aber meine Seele, genau wie die Liebe zwischen uns, nie stirbt.
Aber es hat keinen Zweck. Er hat sich abgeschottet. Kann mich nicht hören. Kann mich nicht spüren.
Ist sich sicher, dass er jetzt ganz allein durch die Welt gehen muss.
Und schon bald spüre ich erneut den Sog. Diesmal so stark, dass es unmöglich ist, ihm zu entkommen.
Er reißt mich weg von Alrik, aus der Jagdhütte und in den Himmel. Reißt mich schwebend, wirbelnd, sausend durch die Wolken, bis ich über Berggipfel fliege und auf die Erde herabblicke, die so anders aussieht, als ich sie bisher kannte, und zu einem Ort geworden ist, an dem alles schimmert, an dem alles vibriert und leuchtet.
Die Wahrheit unseres Daseins wird so deutlich dargelegt, dass mir unbegreiflich ist, warum ich sie nicht schon längst erkannt habe.
Sämtliche Lebewesen, Pflanzen, Tiere und Menschen, die den Planeten bevölkern, hängen zusammen.
Wir sind alle eins.
Und auch wenn
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