Evermore Bd. 6 - Für immer und ewig
Er hat sich nie verziehen, sie zu mir gebracht zu haben. Hat nie seine Schuldgefühle verwunden. Denn er hat sie ja ebenso
für sich gerufen wie für mich. Er konnte es nicht ertragen, dich zu verlieren. Hätte alles getan, um dich am Leben zu erhalten, selbst wenn er dann hätte zusehen müssen, wie du mich heiratest. Als du dann aber trotz all unserer Bemühungen gestorben bist, hat er rasch akzeptiert, was ich stur geleugnet habe. Was wir getan haben, war falsch und unnatürlich, etwas, was man besser sein lässt. Er hat das begriffen, ich nicht. Weder in diesem Leben noch in dem, das folgte und in dem ich schließlich einen Weg gefunden habe, zu beenden, was ich begonnen hatte.« Er schließt die Augen und sinniert über den Wahnsinn der letzten paar Hundert Jahre. »Hast du den Rest seines Lebens gesehen? Hast du gesehen, was aus ihm wird?«
Ich schüttele den Kopf.
Damen seufzt und streichelt mir mit abwesender Miene die Arme. »Er ist irgendwohin ganz weit weg gezogen und noch in jungen Jahren ganz allein gestorben. Ich fürchte, mein Karma ist in schlimmerem Zustand, als ich je geahnt hätte.«
Da ich nicht weiß, was ich sagen soll, sage ich nichts, doch das ist okay, weil Damen an meiner statt spricht.
»Und was jetzt? Warten wir hier – und hoffen, dass Jude oder Lotos noch einmal auftauchen? Oder gehen wir zurück und versuchen, die Taten aus früheren Leben wiedergutzumachen, die wir eigentlich nicht mehr ändern können? Es ist dein Auftrag, Ever. Deine Bestimmung. Deine Reise. Ich werde dich nicht mehr infrage stellen.«
Ich sehe ihn erschrocken an, denn seine Worte schockieren mich mehr als nur ein bisschen, da ich weiß, wie gern er Recht hat, wie gern er bestimmt, wo es langgeht – aber so ist das ja bei den meisten Leuten.
Doch er zuckt nur die Achseln. »Geht es nicht genau
darum? Ist das nicht der Grund dafür, warum du in meinen Leben immer wieder auftauchst? Um mich über Kummer zu unterrichten, um mich zu lehren, ihn zu spüren, zu akzeptieren, aber nicht zu versuchen, ihn zu überlisten. Mich aus dem Dunkel ins Licht zu führen – mir die unverfälschte Wahrheit unserer Existenz zu zeigen – mir zu zeigen, dass ich die ganze Zeit auf dem Holzweg war und die Seele unser einziger unsterblicher Teil ist. Ist das nicht der Grund dafür, warum all das passiert ist, warum du und ich kein wahres Glück finden können, warum wir immer wieder mit unüberwindlichen Hindernissen konfrontiert werden? Ist das nicht der Grund dafür, warum wir jetzt hier stehen – weil ich komplett im Irrtum war und alles in kolossalem Ausmaß durcheinandergebracht habe?«
Stille legt sich über uns. Damen sinnt seiner Vergangenheit nach, während mich seine Worte sprachlos machen. Doch ich will rasch weiterkommen, will mich nicht länger damit aufhalten, und so möchte ich ihm sagen, dass ich keine Ahnung habe, was als Nächstes kommen könnte, dass ich es auch nicht besser weiß als er, als ich plötzlich ein kleines weißes Boot am Ufer ankern sehe, direkt neben uns. Ein Boot, das aus dem Nichts erschienen ist und vor einer Minute noch nicht da war.
Da ich weiß, dass es hier keine Zufälle gibt, keine Geschehnisse ohne konkrete Ursache, umfasse ich Damens Hand, führe ihn auf das Boot zu und sage: »Ich glaube, wir sollen eine Bootsfahrt machen.«
ZWEIUNDZWANZIG
I ch setze mich auf den Sitz und rücke die Samtkissen an der Rückenlehne zurecht, ehe Damen neben mir Platz nimmt. Das Boot ist lang, mit glänzend roter Farbe lackiert und an den Seiten mit goldenen Schnörkeln verziert. Vorn und hinten läuft es schmal zu und erinnert mich an die Gondel, die Jude und ich einst in der Sommerland-Version von Venedig manifestiert haben. Aber ohne Ruder, ohne Motor, ohne Handhabe zu steuern oder zu lenken, sind wir dem Fluss völlig ausgeliefert. Haben keine andere Wahl, als uns zurückzulehnen und das Beste zu hoffen.
Das Boot macht sich gleich nachdem wir eingestiegen sind, vom Ufer los und folgt der Strömung, ohne dass wir wüssten, was vor uns liegt. Damen legt beschützend einen Arm um mich, während wir die vorbeiziehende Landschaft betrachten. Der Fluss wird so schnell breiter, dass wir schon bald nur noch von tiefem, dunklem Wasser umgeben sind und das Ufer, an dem wir einst standen, bloß noch als kleiner goldener Fleck an einem entfernten Horizont zu erkennen ist.
Ich schmiege mich an Damen und wünschte, ich könnte etwas tun oder sagen, um die leise Sorge, die seine Stirn umwölkt, die Reue, die
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