Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
wie letztes Mal von ihr abprallt, beschließe ich, ihr stattdessen das zu geben, was sie braucht. Ein paar Schlucke Elixier können ja nicht schaden, sondern eher dazu beitragen, das Tier in ihr zu zähmen.
Langsam und bedächtig drehe ich mich um, um sie auf keinen Fall aufzuschrecken oder irgendwie zu reizen, gehe die Treppe hinauf und bedeute ihr, mir zu folgen. »Ich teile gern mit dir, Haven«, sage ich. »Ich habe mehr als genug, also keine Sorge. Was mich allerdings interessieren würde …« Ich bleibe auf dem Treppenabsatz stehen und sehe sie an. »Warum brauchst du meinen Saft? Was ist denn mit deinem passiert?«
»Er ist mir ausgegangen.« Schulterzuckend funkelt sie mich an. »Er ist mir ausgegangen, weil du eine Ladung davon gestohlen hast, und jetzt hol ich sie mir zurück.«
Sie grinst, da die Aussicht auf einen Schluck Elixier sie offenbar ein wenig beruhigt hat, doch bei ihren Worten läuft es mir eiskalt über den Rücken. Ich habe keine Ahnung, wie viel Saft Roman gelagert haben mochte, doch wenn er so ähnlich denkt wie Damen, muss es ein sehr reichlicher Vorrat gewesen sein, mindestens genug für ein Jahr. Da das Elixier unter den richtigen Mondphasen fermentieren muss, kann man nicht einfach spontan eine Ladung davon herstellen. Und die Tatsache, dass sich Misa und Marco lediglich zwei Taschen voll schnappen konnten, bedeutet, dass Haven den Rest davon in kurzer Zeit getrunken hat. Das ist nicht nur alarmierend, sondern erklärt auch den Zustand, in dem sie sich befindet.
Ich gehe in mein Wohnzimmer, trete an den Mini-Kühlschrank, der direkt hinter dem Tresen mit der kleinen Spüle steht, und nehme eine frische Flasche heraus. »Ich
habe dein Elixier nicht gestohlen. Ich habe weder Interesse noch Bedarf daran.«
Vor Wut zitternd steht sie vor mir. »Du lügst wie gedruckt! Hältst du mich für blöd? Wie willst du denn sonst überlebt haben? Ich weiß alles über die Chakren – Roman hat es mir erzählt, und der weiß es von Damen! Seit damals, als Roman die Kontrolle über ihn hatte, damals, als er ihn bequatscht hat, ihm alle möglichen Geheimnisse zu verraten. Ich hab dich an deiner schwachen Stelle getroffen, das weißt du. Ich hab dich geschlagen, ehe du zu Boden gegangen bist, und noch einmal danach und dann sogar extra noch einmal, bis ich gedacht habe, du seist endlich tot. Das hätte dich umbringen müssen! Für mich stand fest, dass es dich umgebracht hat. Ich dachte, du bist einzig und allein aus dem Grund nicht zu einem Häufchen Staub zerfallen, weil du nicht so alt bist wie die anderen. Aber jetzt weiß ich den wahren Grund dafür, weshalb du noch lebst …«
Ich weiß ganz genau, was der Grund dafür ist – nämlich die Tatsache, dass ich meine Leben direkt vor mir ablaufen gesehen habe. Die Tatsache, dass ich die Wahrheit gesehen habe. Und deswegen habe ich die richtige Wahl getroffen, die einzige Wahl, die es mir erlaubt hat, mich über mein schwaches Chakra zu erheben. Nicht mehr und nicht weniger. Trotzdem interessiert mich ihre Sicht der Dinge.
»Du hast Romans Elixier getrunken.« Sie schüttelt den Kopf, dass die blauen Schmucksteine an ihren Ohrringen leise klirren. »Es ist wesentlich stärker als deines, wie du ja weißt, und genau deswegen hast du es getrunken. Es ist das Einzige , was dich gerettet hat!«
Ich zucke die Schultern, und mein Blick fällt auf unsere Spiegelbilder in dem Spiegel an der Wand hinter ihr. Der Unterschied zwischen uns ist so augenfällig – ihre Dunkelheit
gegen meine Helligkeit. Der Kontrast ist so stark, dass es mir den Atem raubt. Ebenso rasch wende ich den Blick wieder ab, entschlossen, ihren erbärmlichen Zustand nicht überzubewerten. Ich kann mir kein Mitgefühl erlauben, nicht, wenn ich möglicherweise irgendwann gezwungen sein könnte, sie zu töten. »Wenn das wahr ist«, sage ich, »wie kommt es dann, dass es anscheinend dich nicht retten kann? Und wie kam es, dass es auch Roman nicht retten konnte?«
Doch für Haven ist das Gespräch beendet. Sie will nur das Eine.
»Gib mir das Elixier.« Sie macht einen langsamen, unsicheren Schritt auf mich zu. »Gib mir das Elixier, dann passiert niemandem etwas.«
»Ich dachte, das hätten wir bereits geklärt.« Ich halte die Flasche hinter meinem Rücken, außerhalb ihrer Reichweite. »Du kannst mich nicht mehr verletzen, schon vergessen? Egal, was du tust oder wie sehr du dich auch anstrengst, du kannst mich nicht treffen, Haven. Also solltest du dir vielleicht eine neue
Weitere Kostenlose Bücher