Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
hab ich ja auch mehr oder weniger gemeint, als ich gesagt habe, dass du keine vorschnellen Schlüsse ziehen sollst. Nicht alles ist so schwarz-weiß, wie es auf den ersten Blick erscheint …«
Ich starre ihn an und warte auf mehr, aber er presst die Lippen zusammen und zieht einen imaginären Reißverschluss darüber zu. Will er sich wirklich so bedeckt halten und mich derart hängen lassen?
»Das war’s?« Kopfschüttelnd sehe ich ihn an. »Dabei willst du es belassen? Völlig vage und unverbindlich, sodass ich alles selbst herausfinden muss, ohne Warnung?«
»Das war eine Warnung«, sagt er, offenbar fest entschlossen, nicht mehr zu verraten.
Ich seufze und schließe die Augen, rege mich jedoch nicht auf, lese nicht seine Gedanken und bedränge ihn auch nicht weiter. Er will nur mein Bestes und ist überzeugt, dass er mich vor irgendetwas beschützen kann. Also lasse ich ihn gewähren. Dabei weiß ich allerdings etwas, was ihm nicht klar ist – dass ich mich allem stellen kann, was immer es auch ist.
Nichts kann mich mehr zerbrechen.
Er klappt die Sonnenblende mit dem Spiegel herunter, zwinkert seinem Abbild zu und kämmt sich mit den Fingern
das ziemlich lange, glänzend braune Haar – sein neuer Look, an den ich mich noch immer nicht ganz gewöhnt habe – und studiert seine Zähne, die Nasenlöcher, sein Profil, ehe er sich für die öffentliche Präsentation für geeignet befindet und die Sonnenblende wieder hochklappt.
»Sind wir fertig?« Ich greife nach meiner Tasche und mache die Tür auf, während er nickt. »Aber nur damit keine Unklarheiten bestehen«, frage ich, »auf welcher Seite stehst du eigentlich?«
Er hängt sich den Rucksack über die Schulter und wirft mir einen Blick zu. Das Funkeln in seinen Augen passt genau zu seinem Lächeln, als er mir antwortet: »Auf meiner. Ich stehe auf meiner Seite.«
Also, er hat jedenfalls keine Witze gemacht. Und er hat auch nicht übertrieben. Einerseits ist alles ganz und gar anders
– es hat sich eindeutig etwas radikal verändert. Während andererseits den weniger Aufmerksamen unter uns, also den Lehrern und dem Verwaltungspersonal, alles genau wie immer erscheint.
Die Tische für die Älteren sind nach wie vor von den älteren Schülern bevölkert – nur dass es jetzt diejenigen sind, die früher nicht einmal dort vorbeilaufen, geschweige denn dort sitzen durften.
Und den Platz einer gehässigen blonden Modepuppe, die dort Hof hielt, hat nun eine gehässige brünette Fascho-Frau eingenommen.
Eine gehässige brünette Fascho-Frau, deren Blick mich noch in derselben Sekunde aufspießt, als ich mit Miles durchs Tor trete.
Sie wendet den Blick gerade lange genug von dem Grüppchen ihrer bewundernden Fans ab, um die Augen
zu Schlitzen zu verengen und das Kinn vorzuschieben, während sie uns rasch mustert. Der Blick dauert nur eine Sekunde, ehe sie sich wieder zu ihrem Gefolge umdreht, doch es ist lang genug, um Miles wie angewurzelt stehen bleiben zu lassen.
»Toll«, murmelt er kopfschüttelnd. »Anscheinend hab ich gerade inoffiziell gewählt, auf welcher Seite ich stehe.« Er fährt zusammen. »Zumindest denkt sie das offensichtlich.«
»Keine Sorge«, flüstere ich und sehe mich aufmerksam um, auf der Suche nach Damen, obwohl ich so tue, als würde ich mich lediglich neu auf dem Schulgelände orientieren. »Ich verspreche, dass ich ihr nicht …«
Da sehe ich ihn.
Damen .
»… ich verspreche, dass ich ihr nicht erlaube …«
Ich schlucke heftig und sauge ihn förmlich mit Blicken auf.
Er lümmelt lässig auf einer Bank, die langen Beine vor sich ausgestreckt, den Rücken auf die Hände gestützt, während er sein hinreißendes Gesicht der Sonne entgegenreckt …
»… ich verspreche, dass ich ihr nicht erlauben werde, dir wehzutun …«
Ich ringe darum, den Satz zu beenden, doch es ist zwecklos. Sowie ich es sehe, begreife ich, dass es das ist, wovor mich Miles zu warnen versucht hat.
Er wollte nicht einfach damit herausplatzen, da er ganz richtig angenommen hat, dass ich ausrasten würde – genau wie ich es gerade tue –, aber er wollte auch nicht, dass ich völlig unvorbereitet darauf stoße und das Gefühl habe, unvermittelt einen üblen Tiefschlag versetzt bekommen zu haben.
Miles hat getan, was er konnte – das muss ich ihm lassen.
Er hat sein Möglichstes getan, um mir diesen Schmerz zu ersparen. Trotzdem, so sehr er auch versucht hat, mich darauf vorzubereiten, es ist einfach nicht möglich, diesen Anblick zu
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