Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
Gedanken und materialisiert sich nicht.
»Ich dachte, es läge vielleicht nur an mir«, erkläre ich und denke daran, wie trist und düster es bei meinem ersten Aufenthalt hier war. »Damals war ich so durcheinander, dass ich allen Ernstes dachte, der ganze Ort würde nur meinetwegen existieren. Du weißt schon, als wäre es eine körperliche Manifestation meines inneren Zustands – oder so.« Ich zucke die Schultern und komme mir reichlich blöd vor, weil ich es laut ausgesprochen habe.
Gerade will ich einen weiteren Schritt vorangehen, als Damen den Arm vor mir ausstreckt und mich aufhält.
Ich folge seinem Blick, seinem Zeigefinger, der über den graubraunen Sumpf hinwegweist. Verblüfft schnappe ich nach Luft, als ich nur wenige Meter entfernt eine alte Frau stehen sehe.
Das Haar hängt ihr in nassen, weißen Strähnen bis auf die Taille und klebt an einer dünnen, grauen Baumwolltunika, genau im selben Farbton wie die graue Baumwollhose, die sie in hohe, braune Gummistiefel gesteckt hat. Unablässig bewegt sie die Lippen und murmelt leise vor sich hin, ehe sie sich vorbeugt und mit den Fingern tief im Schlamm gräbt. Damen und ich sehen schweigend zu und fragen uns, wie wir sie bis jetzt übersehen konnten.
Wir stehen eine ganze Weile unschlüssig da und wissen weder, was wir sagen, noch, was wir tun sollen, falls sie uns auch bemerken sollte. Doch bis jetzt scheint sie uns nicht wahrzunehmen, sondern konzentriert sich nur auf ihre Tätigkeit. Schließlich hört sie auf zu graben, greift nach einer kleinen, silbernen Kanne und beginnt, den bereits völlig durchweichten Boden zu gießen.
Erst als sie sich zu uns umwendet, erkenne ich, wie alt sie wirklich ist. Ihre Haut ist so fein, so dünn und transparent, dass man praktisch hindurchsehen kann, während ihre Hände knorrig und knotig sind, mit dicken, hervorstechenden Knöcheln, die aussehen, als würden sie wehtun. Doch es sind ihre Augen, die die wahre Geschichte erzählen – ihre Farbe ähnelt einem verwaschenen Jeansstoff. Sie sind feucht, von einem dünnen Film überzogen und voller trüber Stellen, aber selbst aus dieser Distanz ist nicht zu übersehen, dass sie direkt auf mich gerichtet sind.
Ihre Finger lösen sich, und sie lässt die Gießkanne fallen,
wobei es sie offenbar nicht kümmert, dass sie sofort komplett vom Matsch verschluckt wird. Langsam hebt sie mit zitternden Fingern den Arm, doch sie zeigt unmissverständlich in meine Richtung und sagt: » Du.«
Sofort stellt sich Damen vor mich und will mich decken, mich vor ihrem Blick abschirmen.
Doch es hat keinen Zweck. Ihr Blick bleibt fest auf mich fixiert, während sie weiterhin mit dem Finger auf mich zeigt und sich unaufhörlich wiederholt.
»Du. Du bist es wirklich. Wir warten jetzt schon so lange auf dich …«
Damen stößt mich an. »Ever, hör nicht auf sie«, flüstert er zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Schließ die Augen und stell dir das Portal vor – sofort!«
Doch obwohl wir uns bemühen, klappt es nicht. Es gibt keinen schnellen Ausweg. In dieser Gegend hier funktionieren weder Magie noch Manifestieren.
Er packt mich an der Schulter und fasst meine Hand, während er mich zum Losrennen drängt. Hastig dreht er sich um, patscht durch den Matsch und bemüht sich, mich mitzuziehen. Wir stolpern, fallen und wechseln uns dabei ab, uns gegenseitig aufzuhelfen, während wir unseren Weg fortsetzen. Wir tun, was wir können, um zu unserem Pferd zurückzugelangen und hier rauszukommen.
Um Distanz zu der Stimme zu gewinnen, die uns verfolgt.
Uns verhöhnt.
Und immer wieder denselben Satz wiederholt:
Aus dem Lehm soll es aufstehen
Sich erheben in weite Traumhöhen
Genau wie du-du-du sollst auch aufstehen …
DREISSIG
S owie wir durch das Tor treten, halten wir Ausschau nach Haven. Doch sie bemerkt uns zuerst.
Das erkenne ich daran, wie sie mit allem aufhört – aufhört, zu reden, aufhört, sich zu bewegen, praktisch aufhört, zu blinzeln und zu atmen – und stattdessen nur noch gafft.
Sie dachte, ich sei tot.
Sie dachte, Jude sei tot.
Doch offenbar ist es nicht ganz so gelaufen, wie sie es geplant hatte.
Ich nicke bestätigend und streiche mir rasch das Haar nach hinten, damit sie meinen Hals deutlich sehen kann – nach wie vor ohne das Amulett. Sie soll wissen, dass ich nicht mehr verwundbar bin. Nicht mehr von einer Schwachstelle beeinträchtigt. Nicht mehr von mangelndem Urteilsvermögen gefährdet, sodass ich ständig den falschen Leuten vertraue oder
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