Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
ließ die Hand sinken. An ihrem Daumengelenk war der kleine, mondsichelförmige, blutige Abdruck ihrer Zähne zu sehen. »Da ist etwas im Haus meiner Eltern.«
»Etwas … wie ein Geist?«
»Der alte Mann«, sagte sie. »Dünn und knochig. Keine Haare. Ich sehe ihn schon, seitdem ich klein war. Damals habe ich ihn immer nur kurz gesehen, meistens in meinen Träumen. Und manchmal glaubte ich, ich würde es mir nur einbilden.«
Raquel klang gefasst, fast ruhig, aber ihr ganzer Körper hatte zu zittern begonnen.
»Vor einigen Jahren dann, als ich älter wurde, fing es an, dass ich ihn immer häufiger entdeckte, und da wurde mir klar, dass ich ihn mir nicht nur einbildete. Er kam spät in der Nacht zu mir, wenn er mir Angst machen konnte. Es gefiel ihm, mir Angst zu machen. Wenn es sich bei ihm denn überhaupt um einen ›Er‹ gehandelt hat. Vielleicht sah er nur so aus, war aber in Wahrheit überhaupt kein Mann. Vielleicht war er nur ein Ding. Ein altes, böses Ding, vom Hass zerfressen. Und er hasst mich wirklich. Das war schon immer so.«
»Und was haben deine Eltern dazu gesagt?« Kaum waren mir die Worte herausgerutscht, da bereute ich sie auch schon. Seitdem ich Raquel kannte, hatte sie mir immer wieder berichtet, wie wenig ernst ihre Eltern ihre Ängste nahmen. Und dies hier war eine der Geschichten, die sie ignoriert hatten und mit denen Raquel allein fertigwerden musste. »Sie haben es dir nicht geglaubt.«
»Genauso wenig wie mein Priester. Oder mein Lehrer. Ich musste einfach … still sein, obwohl ich wusste, dass er da war. Dass er immer da sein würde, um auf mich zu warten. Mich anzustarren. Er hat … gierige Augen. Bis zu diesem Sommer war das alles, was er tat. Mich anstarren. Ich dachte, das würde für immer so bleiben, und ich hatte mich daran gewöhnt, von ihm beobachtet zu werden, aber dann …« Ein Schauer lief ihr über den Rücken, der so stark war, dass ich Raquel die Hand auf die Schulter legte, damit sie sich wieder beruhigte. »Diesen Sommer … habe ich nachts manchmal geträumt, dass … dass er auf mir lag und mich niederdrückte, während er mit mir Sex hatte. Es tat weh, weil ich immerzu versuchte, ihn von mir wegzustoßen, aber ich konnte mich nicht richtig bewegen. Manchmal war das jede Nacht so.«
»O mein Gott.«
Endlich blickte sie auf und schaute mir in die Augen. Eine Träne rann ihr über die Wange. »Bianca, ich weiß nicht, ob das Träume waren. Mein ganzes Leben lang habe ich versucht, mir einzureden, dass ich ihn mir nur einbilde. Letztes Jahr dann, als ich die Geräusche auf dem Dach hörte … Ich habe hier in Evernight das gleiche Gefühl, dass da etwas Böses ist, wie ich es bei dem Ding zu Hause hatte. Ich habe es hier immer gespürt. Und nun siehst du es auch noch, und ich weiß endlich, dass es wirklich real ist.«
»Es ist real. Daran darfst du nie wieder zweifeln.« Ich war mir nicht sicher, ob das ein Trost für sie war. »Aber es ist nicht das gleiche Ding wie bei dir zu Hause. Was ich gesehen habe, war nicht dasselbe.« So erschreckend es auch gewesen war, ich war mir sicher, dass es etwas ganz und gar anderes gewesen war.
»Vermutlich nicht. Es hat mir trotzdem eine Heidenangst gemacht, aber ich hätte das nicht an dir auslassen sollen.« Raquel ließ den Kopf hängen. »Es tut mir leid.«
»Hey, ich bin diejenige, die sich entschuldigen sollte.« Ich fühlte mich wie eine Idiotin. Raquel hatte sich nicht nur in der letzten Woche sonderbar benommen, sondern sie war seit dem Anfang des Schuljahres angespannt und niedergeschlagen gewesen. Ich hatte es einfach darauf geschoben, dass sie eine ganz spezielle Persönlichkeit war, ohne mich zu fragen, ob das Problem vielleicht ein tiefer gehendes war. Okay, ich hätte niemals auf die Idee kommen können, dass es so etwas war, das ihr auf der Seele lag, aber ich hätte mir denken können, dass etwas ernsthaft nicht stimmte. Ich war so mit meinen eigenen Sorgen beschäftigt gewesen, dass ich vergessen hatte, Raquel eine gute Freundin zu sein. »Ich hätte mir mehr Mühe geben sollen, mit dir zu sprechen. Und ich hätte dich nicht einfach so links liegen lassen sollen. Es tut mir leid.«
»Ist schon in Ordnung.« Raquel schniefte einmal, dann lachte sie kurz, wie immer bemüht, ihre wahren Gefühle zu verbergen. »Ich wollte nicht, dass du mich für seltsam hältst.«
»Du kannst mir alles erzählen. Jederzeit. Und das meine ich ganz ernst.«
»Für dich gilt das Gleiche, okay?«
Es gab so viel, was ich
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