Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
Raquel niemals würde anvertrauen können, aber ich nickte trotzdem.
Nachdem Raquel sich schlafen gelegt hatte, lag ich wach und dachte über die entsetzliche Geschichte nach, die sie mir erzählt hatte. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Balthazar hatte mir die Angst vor Geistern genommen, indem er mir sagte, dass die meisten von ihnen sich vor Vampiren fürchteten, doch dieser Trost war nun, da ich wusste, wozu sie imstande waren, nicht mehr viel wert.
Was immer dort oben gewesen war, es war gefährlich, auf jeden Fall für Menschen und vielleicht auch für uns alle.
11
»Warum ist die Liebe ein so gängiges Motiv im Drama?«
Mrs. Bethany lief langsam durch ihren Klassenraum, ihre spitzen Stiefel klackten auf dem Holzfußboden. Ihre Hände hatte sie hinter dem Rücken verschränkt. Inzwischen hatten wir alle gelernt, dass sie keinerlei Antwort auf ihre Frage erwartete, wenn sie sie in diesem Tonfall stellte. Ihr war es lieber, wenn wir den Mund hielten und ihr zuhörten.
»Natürlich, weil Liebe überzeugend ist. So kurzlebig sie auch sein mag, sie verführt ansonsten rational handelnde Wesen dazu, sich in seltsamster Art und Weise zu verhalten.« Ihre dunklen Augen blickten einen Moment lang aus dem Fenster, doch dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf uns. »Deshalb ist es für Shakespeare plausibel, wenn er die romantische Liebe als Hauptmotivation für Romeos und Julias Handlungen zugrunde legt. Wir fragen uns, ob sich junge Leute so benehmen würden. Und wir wissen, dass das der Fall ist. Und so kommt uns das Stück wie ein Abbild des wirklichen Lebens vor.«
Ich rutschte auf meinem Stuhl herum und starrte auf die Uhr über der Tür. Ich musste nur noch drei Minuten durchhalten.
»Trotzdem gibt es in Romeo und Julia mehr, über das man nachdenken muss, als nur eine jugendliche Leidenschaft.« Mrs. Bethany schlenderte durch den Raum und blieb just neben meinem Tisch stehen, sodass mir der Lavendelgeruch, der sie immer umgab, in die Nase steigen musste. Sie fuhr fort: »Ihre Hausaufgabe, die Sie heute in einer Woche einzureichen haben, besteht darin, auf drei Seiten darzulegen, welche Schwächen sich in Shakespeares Stück Romeo und Julia Ihrer Meinung nach finden lassen. Ich werde jetzt nicht weiter auf diese Mängel eingehen; mich interessiert viel mehr, welche davon Sie bemerken und angemessen darstellen können.«
Sagte sie Schwächen ? In Romeo und Julia ? Meinem Lieblingsstück aller Zeiten?
Mrs. Bethany machte eine kurze Pause und ließ ihren scharfen Blick durch den Klassenraum wandern. Und wieder einmal hatte ich das Gefühl, dass sie meine Gedanken lesen konnte und kurz davor war, sich auf mich zu stürzen. Doch dieses Mal hatte ihre Verärgerung nichts mit mir zu tun. »Ich stelle fest, dass viele von Ihnen, die vorhaben, nach Riverton zu fahren, bereits in ihrer Konzentration nachlassen. Wollen wir hoffen, dass Sie Ihr kritisches Urteilsvermögen bis zum Abgabetermin wiedergefunden haben. Der Unterricht ist beendet.«
Ich war zwar nicht als Erste draußen, aber fast. Als ich durch den Gang rannte, konnte ich spüren, wie sich ein Lächeln auf mein Gesicht stahl. Auch wenn ich um die Möglichkeit wusste, dass es Lucas heute nicht schaffen würde, war ich mir sicher, dass er alles daransetzen würde, einen Weg zu finden. Und es musste einfach einen Weg geben.
Gerade als ich die Treppe nehmen wollte, die zu den Mädchenschlafräumen führte, sah ich Balthazar, der sich seinen Rucksack über eine Schulter hängte. Aus der Laune heraus musste ich kichern und dachte: Warum nicht? Es passt zu der Geschichte, die wir uns ausgedacht hatten. Also rannte ich auf Balthazar zu und ließ ihm praktisch keine Chance, mir auszuweichen, denn ich sprang hoch und ihm in die Arme, sodass er mich auffangen musste.
»Aber hallo!« Er umschlang mich so fest, dass meine Füße über dem Boden baumelten. Ich klammerte mich an seinen Nacken und grinste. Balthazar lachte. »Du bist guter Laune.«
»Stimmt genau.«
»Ich kann mir denken, warum.« Er seufzte und ließ mich wieder zu Boden sinken. »Wir sehen uns dann im Bus.«
Balthazar war die Ausnahme zur ungeschriebenen Regel, dass »Evernight-Typen« nicht mit den menschlichen Schülern nach Riverton fuhren. Ich schätze, die meisten der Menschen hielten es für Hochmut und glaubten, die Insider-Clique würde die Außenseiter meiden. Das stimmte auch zum Teil. Aber vor allem fürchteten sich die Vampire
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