Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
uns herum. Sie und Lucas standen voreinander und schauten sich an.
»Du weißt immer noch nicht, was du denken sollst, nicht wahr?«, fragte Lucas leise.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Aber Lucas, du bist immer wie ein Bruder für mich gewesen. Ich mache lieber das Falsche, indem ich dir zur Freiheit verhelfe, als das Richtige zu tun und zuzulassen, dass dir was geschieht.«
Lucas stieß einen seltsam erstickten Laut aus, der tief aus seiner Kehle aufgestiegen war, und dann, ganz plötzlich, umarmten er und Dana einander fest. Ich sah, wie eine Träne über Danas Wange rollte.
Als sie sich losließen, wollte ich mich bedanken, aber ich war noch immer wütend auf sie. Das Wissen um die Tatsache, dass ich falsch mit meinem Zorn auf Dana lag, der eigentlich Raquel gebührte, änderte nicht viel. Ich brachte lediglich heraus: »Was wirst du den anderen sagen?«
»Dass Lucas mich als Geisel genommen hat.«
»Und das werden sie dir glauben?«, fragte ich. Milos war schließlich bereits skeptisch geworden, was Balthazars »Tod« anging.
»Das wird Milos, sobald Lucas dafür gesorgt hat, dass die Sache glaubwürdig erscheint«, antwortete Dana und straffte die Schultern.
Ich verstand nicht, worum es ging, aber Lucas hatte es offenbar sofort begriffen. Er schnitt eine Grimasse und sagte: »Das möchte ich wirklich nicht tun.«
»Lass mich deine Erinnerung auffrischen, wie so etwas funktioniert«, sagte Dana. »Ich habe dir deinen Hintern gerettet, jetzt rette du mir meinen. Na los.«
Lucas schlug ihr so hart ins Gesicht, dass sie gegen die Rückseite des Busses geschleudert wurde. Entsetzt keuchte ich. Auch wenn Dana taumelte, gelang es ihr, auf den Beinen zu bleiben. Lucas fragte: »Wie schlimm ist es?«
»Das wird schon«, antwortete sie undeutlich. Blut tropfte von ihren Lippen auf den Bürgersteig. »Warum musst du dein Handwerk so gut verstehen?«
»Dana«, setzte ich an. »Bist du sicher …«
»Warum seid ihr denn immer noch hier?«, fragte sie.
Lucas packte meine Hand, und wir beide rannten los. Der Atem brannte in meiner Kehle, und der Bürgersteig schmerzte unter meinen Füßen, doch ich zwang mich dazu, schneller und immer schneller zu rennen. Alles, was ich hören konnte, war Danas Stimme hinter uns, die schrie: »Verschwindet, solange ihr noch könnt.«
12
Obwohl am Kartenschalter der U-Bahn ein Angestellter hätte sitzen sollen, war der Verkaufstresen unbesetzt. Vielleicht hatte sich jemand gedacht, wenn überhaupt, dann wäre vier Uhr morgens die beste Zeit für eine Pause. Uns gab das die Gelegenheit, über die Drehkreuze zu springen und auf einen Zug zu warten.
Nebeneinander saßen wir auf einer der alten Holzbänke, die über und über mit Graffiti besprüht war. Zunächst sprach keiner von uns auch nur ein Wort. Mir kam es so vor, als ob alles um uns herum weit weg wäre, und es fiel mir schwer, mich daran zu erinnern, dass ich nicht einen schlechten Traum hatte oder in einer entsetzlichen Erinnerung gefangen war. Es war, als wollte mein Gehirn mir vorgaukeln, dass dies alles nicht im Hier und Jetzt geschehen konnte.
Das Erste, das sich mir mit aller Macht ins Bewusstsein drängte und mich zum Sprechen brachte, war das Schild über unseren Köpfen. »Downtown«, las ich. »Da wollen wir doch hin, oder?«
»Was für einen Unterschied macht das schon?« Lucas lehnte den Kopf gegen die gekachelte Wand. »Hauptsache, wir bringen Abstand zwischen sie und uns, dann ist doch alles gut.«
Alles gut waren nicht gerade die Worte, die ich benutzt hätte, um unsere Situation zu beschreiben. Ich glaubte aber zu verstehen, was Lucas vorhatte. »Ich weiß, dass du um meinetwillen stark sein möchtest«, sagte ich sanft, »aber jetzt gerade denke ich, es wäre wichtiger, wenn du ehrlich mit mir wärst.«
»Stark.« Lucas kniff die Augen zusammen. »Bin ich das? Fühlt sich gar nicht so an.«
Das Schwarze Kreuz ist alles auf der Welt, was er je hatte , sagte ich mir. Es ist entsetzlich, was ich durchgemacht habe, aber für Lucas war die heutige Nacht noch schrecklicher. Er hat seine Mutter und seine beste Freundin verloren – alles außer mir. Vielleicht bin ich jetzt an der Reihe, eine Zeit lang die Starke zu sein.
»Wir werden es schon schaffen.« Ich nahm seinen Arm in meine Hände und begutachtete die Verbrennungen vom Weihwasser. Da waren dünne, pinkfarbene Streifen, die aussahen wie Reste eines sehr schlimmen Sonnenbrandes. »Du wirst sehen.«
In diesem Augenblick gab es einen Luftzug, der
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