Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
ging: Rache! Und hast du die Fallen vergessen, die sie den Geistern gestellt hat?«
»Bevor du selbst zum Geist geworden bist, wolltest du sie ebenso gerne zur Strecke bringen!« Lucas merkte, dass wir angefangen hatten, uns anzubrüllen, und holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Ich konnte in meinem Zustand nicht ruhig atmen, aber ich versuchte ebenfalls, mich wieder zu mäßigen. Die wenigen Male, da Lucas und ich uns gestritten hatten, waren immer entsetzlich gewesen, und außerdem wollte ich nicht, dass irgendjemand auf uns aufmerksam würde. Leiser fuhr Lucas fort: »Die Leute können mehr als einen Grund für ihre Taten haben.«
»Wenn es um Mrs. Bethany geht, dann sind das keine guten Gründe.«
»Warum glaubst du das? Ganz ernsthaft, Bianca, hast du irgendeinen Grund dafür, ihr zu misstrauen, abgesehen von der Tatsache, dass sie im Unterricht unausstehlich ist?«
Mir gingen die Argumente aus. »Die Leute, die sie getötet hat …«
»Ich habe mehr als genug Vampire umgebracht«, unterbrach mich Lucas. »Und ich sehe jetzt, dass das auch Leute waren. Vertraust du mir ?«
»Natürlich. Immer.« Meine Gedanken überschlugen sich. Wann hatte ich angefangen, mich vor Mrs. Bethany zu fürchten? War es vielleicht nichts mehr als eine jugendliche Angst vor einer strengen Lehrerin? Ich konnte das nicht glauben, aber mir fiel auch kein besserer Grund ein. »Nenn es einfach Instinkt, Lucas. Ich vertraue ihr nicht.«
»Wir können sie nicht einfach allein wegen deines Instinkts ablehnen. Nicht, wenn sie mir so viel anbietet.«
»Was bietet sie dir denn an? Abgesehen von vagen Versprechungen, meine ich.«
»Einen Ort, an dem ich leben kann«, sagte er. »Das Recht, Dinge herauszufinden. Und vielleicht die Möglichkeit, diesem Hunger ein Ende zu setzen.«
Lucas ließ den Blick übers Schulgelände schweifen und entdeckte eine Gruppe von Schülern. Menschlichen Schülern, wie mir sofort klar war. Selbst jetzt, wo wir mitten in einer hitzigen Diskussion steckten, konnte Lucas ihr Blut riechen und sehnte sich danach, zum ersten Mal zu töten.
»Oh, Lucas.« Ich wagte es, mich ein wenig sichtbarer zu machen, sodass ich seine Hand anfassen konnte. Als er die Berührung spürte, schloss er fest die Augen, und ich tat es ihm nach.
»Glaubst du, dass das wahr sein könnte?«
Er trat einen Schritt vom Geländer weg, als habe er neue Kraft geschöpft. Seine Kiefer waren fest zusammengebissen, als er mich ansah, und wie immer wusste er auf merkwürdige Weise genau, wie er meinem Blick begegnen musste. »Ich werde es herausfinden.«
»Lucas, warte!« Aber ich war zu spät. Er rannte vom Pavillon weg unmittelbar aufs Kutschhaus zu.
Lucas lief geradewegs in Mrs. Bethanys Höhle. Und in diesem Moment wusste ich es: Wenn sie ihm nur die richtigen Versprechungen machte, dann konnte ich Gefahr laufen, ihn für immer zu verlieren.
17
Ich folgte Lucas zu Mrs. Bethanys Kutschhaus. Auch wenn ich ihn noch einmal hätte rufen und versuchen können, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten, tat ich es dennoch nicht.
Wir müssen herausfinden, sagte ich mir, ob sie ihm wirklich helfen kann. Dann sollte ich sie es tun lassen.
Rührte meine ablehnende Haltung nur daher, dass ich eifersüchtig auf Mrs. Bethany war, weil sie ihm etwas so Wertvolles geben konnte – etwas, das er von mir nicht bekommen konnte? Wie armselig wäre das, wie kleingeistig? Kein Wunder, dass Lucas das Gefühl hatte, er könne ihr vertrauen, wenn ich im Vergleich dazu so schlecht abschnitt.
Ich würde zuhören und die beiden beobachten. Vielleicht würde ich erfahren, dass Lucas tatsächlich von seinem Blutdurst befreit werden könnte. Wenn das der Fall wäre, so schwor ich mir, würde ich nie wieder ein böses Wort über Mrs. Bethany verlieren.
Als Lucas an die Tür klopfte, bezog ich unbemerkt wieder an meinem inzwischen schon vertraut gewordenen Ort, auf dem Fensterbrett, Stellung. Ich war erleichtert, als ich keine Fallen in der Nähe spürte, doch dann erschrak ich. Es saß bereits jemand auf einem Stuhl vor Mrs. Bethanys Schreibtisch: Samuel, der zweifellos wegen des Kampfes früher an diesem Tag zu ihr zitiert worden war. Wahrscheinlich würde Lucas gar keine Gelegenheit haben, sich ernsthaft mit Mrs. Bethany zu unterhalten. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich mich darüber freuen sollte oder nicht.
Aber als Mrs. Bethany die Tür öffnete und Lucas sah, sagte sie: »Was für ein ausgezeichnetes Timing, Mr. Ross. Bitte kommen Sie doch
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