Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
wollte Lucas wissen.
»Was meinst du?«
»Ich kann ja nicht für immer und ewig an dieser Schule bleiben«, erklärte Lucas. »Ich meine, theoretisch vermutlich schon, aber ich sehe mich nicht die nächsten Jahrhunderte lang jedes Semester aufs Neue meinen Kurs in Englischer Literatur wiederholen. Und du kannst dich nicht bis in alle Ewigkeiten in irgendeiner Ecke verstecken und auf mich warten.«
So weit hatte ich noch nicht vorausgedacht; das hatte ich nicht gewagt. Nun, wo ich meine eigenen Kräfte besser verstand und viele Orte kannte, an die ich zurückkehren konnte, und um Dinge wusste, die mir offenstanden, fürchtete ich mich nicht mehr so sehr vor der Ewigkeit, die vor mir lag. Aber für Lucas war das etwas anderes.
Ich sagte: »Die meisten Vampire fangen irgendwann an … herumzuziehen, glaube ich. Sie machen sich ihre Unsterblichkeit zunutze und erkunden die Welt. Wenn du erst mal einige Jahrzehnte lang Erfahrung gesammelt hast, dann ist es offenbar nicht sehr schwer, Geld zu verdienen. Und nachdem du reich geworden bist, kannst du so ziemlich alles tun, worauf du Lust hast.«
Bei den Worten einige Jahrzehnte verzog Lucas das Gesicht und antwortete schließlich: »Ich muss nicht reich werden. Ich muss nicht tun können, was ich will. Denn jetzt, in diesem Augenblick, bin ich mir nicht sicher, ob ich meine Fähigkeiten gut einsetzen würde.«
»Du musst aufhören, vor dir selber Angst zu haben. Du darfst dich nicht vor dem fürchten, was du geworden bist.«
»Ich weiß genau, in was ich mich verwandelt habe«, sagte er. »Und deshalb weiß ich, dass ich mich sehr wohl fürchten muss.«
Angst griff nach mir, als ich zu ahnen begann, dass seine nächsten Worte so etwas wie »Du solltest frei sein« lauten würden. Er glaubte noch immer, eine Last für mich zu sein, obwohl das überhaupt nicht der Fall war. »Was aus dir geworden ist? Du bist mein Anker geworden«, sagte ich. »Du bist die Person, die mich an diese Welt bindet.«
Er konnte es nicht so recht glauben. »Wirklich?«
»Ja, natürlich.«
Lucas stieß langsam den Atem aus. »Ich wünschte nur, ich könnte daran glauben, dass ich dir etwas geben kann, was von Wert ist.«
»Das tust du jeden Tag. Jede Sekunde. Daran darfst du nie zweifeln.«
»In Ordnung«, sagte er, aber ich wusste, dass er nicht völlig überzeugt war. Es wurde Zeit, dass wir uns unseren wirklichen Problemen stellten. »Hör mir zu«, begann ich. »Ich will mit dir über Mrs. Bethany sprechen.«
Er wandte sich halb zu mir um, sodass ich sein Gesicht sehen konnte. »Müssen wir das alles schon wieder durchgehen?«
»Ich habe Neuigkeiten.«
So schnell, wie es ging, berichtete ich ihm, wer Christopher war und was ich durch ihn über Mrs. Bethanys Vergangenheit erfahren hatte. Als ich erzählte, dass sie beim Schwarzen Kreuz gewesen war, bekam Lucas große Augen, aber er unterbrach mich nicht. Ich schloss mit den Worten: »Sie ist also nicht einfühlsam, nur weil sie plötzlich nett geworden ist. Sie hasst einfach das Schwarze Kreuz ebenso sehr wie du.«
»Warum müssen das denn zwei verschiedene Dinge sein?«
Ich starrte Lucas an und fühlte einen Stich. Er schien eher noch frustrierter als vorher.
»Bianca. Wenn man schlecht auf das Schwarze Kreuz zu sprechen ist, bedeutet das denn zwangsläufig, dass man für immer die Fähigkeit verliert, rational zu denken? Oder sich um andere Leute zu kümmern? Falls das so ist, bin ich geliefert.«
»Das habe ich doch überhaupt nicht gesagt.«
»Ach nein?« Lucas trat mit dem Fuß gegen die Eisenstreben des Pavillons, sodass der Efeu daran raschelte. »Warum nur hasst du sie so sehr?«
»Sie ist eine Mörderin.« Ich hatte gar nicht gewusst, dass ich so laut oder mit so scharfer Stimme sprechen konnte, wenn ich kaum mehr als ein Nebelstreif war. »Sie hat Eduardo umgebracht, weißt du das nicht mehr? Und wie viele andere Mitglieder deiner Zelle?«
»Sie gehörten zu der Zelle, die in die Evernight-Akademie eingedrungen ist und versucht hat, Mrs. Bethany zu töten. Und Eduardo …« Seine Hände umklammerten das Eisen des Pavillons so fest, dass es ihm wehtun musste. Lucas hatte nicht viel für seinen Stiefvater übriggehabt, aber er machte sich selbst jetzt noch Sorgen um seine Mutter, die allein zurückgeblieben war. »Das geschah, als Mrs. Bethany zur New Yorker Zelle kam, weil sie dich retten wollte. Oder hast du das vergessen?«
»Sie wollte Rache nehmen für den Angriff auf die Schule. Das war alles, um was es ihr
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