Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
und ihren langen Fingernägeln, die dunkelrot lackiert waren. Aber ich konnte an nichts anderes denken als an das letzte Mal, als ich ihr begegnet war: während des Angriffs auf das New Yorker Hauptquartier des Schwarzen Kreuzes, den sie angeführt hatte. Sie hatte, ohne zu zögern, Lucas’ Stiefvater vor meinen Augen getötet. Die Schulleiterin von Evernight verschaffte ihrer Vorstellung von Recht und Ordnung auf jeden Fall Geltung, ob es nun darum ging, Rache für einen Anschlag des Schwarzen Kreuzes zu üben oder die Kleidungsvorschriften der Schule durchzusetzen. Das schien auch Balthazar durch den Kopf zu gehen. Aber ganz sicher war ich mir da nicht.
Lucas und ich waren uns begegnet, weil Mrs. Bethany vor zwei Jahren plötzlich die Regeln der Evernight-Akademie verändert hatte, sodass sich nun auch menschliche Schüler einschreiben konnten – natürlich ohne ebendiese menschlichen Schüler darüber zu informieren, dass sie von Vampiren umringt sein würden. Jeder Einzelne dieser neu zugelassenen Schüler hatte auf die eine oder andere Weise eine Verbindung zu Geistern. Warum Mrs. Bethany die Jagd auf Geister eröffnet hatte – auf Kreaturen wie mich also –, würden wir erst noch herausfinden müssen. Sie war eine komplizierte Person, und ich durfte nicht so tun, als würde ich sie auch nur ansatzweise durchschauen.
Aber ich hegte die Hoffnung, dass Mrs. Bethany sich wenigstens heute an die Regeln halten würde, denn ich sah das Auto, das Balthazar gemietet hatte, die lange Kiesauffahrt heraufkommen.
Als Balthazar ausstieg, lächelten viele der Schüler – Vampire wie Menschen – ihn an. Ohne sich darum zu bemühen, war er immer beliebt gewesen, und viele Mitschüler hatten Vertrauen zu ihm. Doch als Lucas auf der Beifahrerseite die Tür öffnete, verschwand das Lächeln von den Gesichtern der Vampire und machte einem Ausdruck tiefster Verachtung Platz.
Diejenigen, die vor zwei Jahren schon hier gewesen waren, wussten, dass Lucas dem Schwarzen Kreuz angehört hatte. Er war zuerst nach Evernight gekommen, um die Schule auszuspähen. Alle wussten, dass er dazu erzogen worden war, Vampire zu töten, wenn sie ihm über den Weg liefen. Alle dürften davon gehört haben, dass er Mrs. Bethany nur um Haaresbreite hatte entkommen können, nachdem er aufgeflogen war. Die Tatsache, dass Lucas in einen Vampir verwandelt worden war, minderte den Hass, den sie ihm entgegenbrachten, nicht im Geringsten.
Der einzige Vampir, der Lucas nicht ungläubig und wutentbrannt anstarrte, war Mrs. Bethany. Ungerührt machte sie einen Schritt auf ihn zu – ihr langer, schwarzer Rock umspielte dabei ihre Beine – und sah Lucas mit ruhiger Miene entgegen. Ihr Gesichtsausdruck war unergründlich, während sie ihm fest in die Augen blickte.
Würde er es über sich bringen? Auf seinem Gesicht malten sich Verwirrung und Zweifel, und das konnte man ihm nun wirklich nicht verdenken. Auf das Recht der Vampire zu pochen, hier aufgenommen zu werden, und sich selbst am Ende als einer von ihnen zu bezeichnen, war für ihn wie ein zweiter Tod. In diesem Augenblick starb der Junge, der er sein ganzes Leben lang gewesen war. Aber ihm blieb keine andere Wahl.
Lucas holte tief Luft. »Ich bitte um Zuflucht in Evernight.«
Chaos brach aus. Etliche der Vampire versuchten, dagegen zu protestieren, entweder Balthazar gegenüber, der sich allerdings auf keine Diskussion einließ, oder gegenüber Mrs. Bethany, die sie ignorierte und reglos inmitten des Durcheinanders stand. Die menschlichen Schüler hingegen hatten keine Ahnung, was vor sich ging oder warum dem neuen Typen so viel Verachtung seitens seiner Kameraden entgegenschwappte. Es war nur verständlich, dass sie ihn bereits ebenfalls mit Vorsicht beäugten.
Lucas hielt sich zurück, aber ich konnte sehen, wie er sich danach sehnte, etwas zu erwidern, und wie seine dunkelgrünen Augen manchmal zu lange auf einem der menschlichen Schüler ruhten. Mrs. Bethany musterte ihn fragend, bis sie ihm schließlich mit einer Geste bedeutete, ihr zu folgen. Sie schlug den Weg zum Rand des Schulgeländes ein, wo das Kutschhaus stand, das sie bewohnte.
Während Balthazar den beiden nachsah, bildete sich ein breiter werdender Ring um ihn, als ob er von den anderen Vampirschülern gemieden würde. Ich konzentrierte mich, erschien unbemerkt an seiner Seite und flüsterte: »Was glaubst du, wie sie es aufnimmt?«
Er fuhr zusammen, dann zischte er: »Mann, hast du mir einen Schreck eingejagt.«
»Von
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