Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
zurückkehren zu lassen. Balthazar hat dir das ausgeredet.«
»Ja. Aber ich habe es zugelassen, dass er es mir ausredet.« Die bedrückende Schwere der unausgesprochenen Frage war zu viel, um sie in diesem Moment zu ertragen, und ich musste die Antwort hören. »Habe ich mich falsch entschieden, Lucas? Ich liebe dich so sehr. Ich konnte dich einfach nicht gehen lassen. Obwohl ich wusste … Ich wusste, dass es vermutlich das war, was du wolltest.«
»Es ist geschehen. Ich weiß, dass du deine Entscheidungen aus Liebe heraus getroffen hast. Das reicht mir«, sagte Lucas. Auch wenn ich mich noch immer entsetzlich fühlte – sowohl deshalb, weil ich überhaupt darüber nachgedacht hatte, ihn zu vernichten, als auch, weil ich es dann nicht zu Ende gebracht hatte –, wusste ich, dass er mir verziehen hatte. Ich wünschte, dass das genug wäre.
»Wenn ich doch nur weinen könnte.«
Er liebkoste meine Hand, als ob er meine Traurigkeit wegstreicheln könnte. »Wie geht es deinem Bein?«
»Nicht so toll.« Ich beugte es und zuckte zusammen. »Aber wenn ich unsichtbar bin, wird es schon wieder werden.«
»So etwas machen wir nie wieder«, sagte Lucas mit wild entschlossenem Gesicht. »Wenn Charity dir in meinen Träumen etwas antun kann, dann darfst du nicht mehr dorthinkommen.«
Ich erinnerte mich an unseren ersten gemeinsamen Traum, damals, als Lucas noch am Leben gewesen war. Wir hatten uns in einer Buchhandlung, in der wir immer herumhingen, in den Armen gelegen, während sich über uns wie ein Wunder der Nachthimmel erstreckte. Es war so wunderschön und romantisch gewesen. Ich hatte geglaubt, dass diese Träume wenigstens unser einziger Trost wären, nun, wo ich tot war. Aber auch diese Hoffnung hatte sich zerschlagen.
Mein Gesicht musste meine Niedergeschlagenheit widergespiegelt haben, denn Lucas küsste mich auf die Stirn, die Wange und schließlich am zärtlichsten auf den Mund. »Es ist alles in Ordnung.« Er sah nicht so traurig aus, wie ich mich fühlte. Bei dem Vielen, das er im Augenblick zu ertragen hatte, hätte ich eher geglaubt, dass es das Fass zum Überlaufen bringen würde, wenn er erführe, dass Charity ihn auch noch in seinen Träumen quälen konnte. Stattdessen schien er nur umso gefasster zu sein. »Ich meine, denk doch mal nach. Balthazar hat schon mal davon gehört, dass es möglich ist, in die Träume anderer einzudringen. Offenbar wissen viele Vampire davon. Und das bedeutet, dass es vielleicht eine Möglichkeit gibt, damit umzugehen. Vielleicht gibt es eine Art Blockade oder so was Ähnliches.«
»Ja, vielleicht.« Das klang ermutigend. Unwillkürlich wurde mir leichter ums Herz. »Das könnte sein.«
»Und selbst, wenn Balthazar nicht weiß, wie ich Charity aus meinen Träumen jagen kann, dann hat bestimmt Mrs. Bethany eine Ahnung. Da muss es doch etwas geben, oder?«
»Das stimmt«, sagte ich grübelnd. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass Charity nicht unser einziges Problem war.
Lucas wollte Mrs. Bethany vertrauen. Er wollte ihr seine tiefsten Ängste anvertrauen und sich hilfesuchend an sie wenden. Vielleicht würde sie ihn retten können – obwohl ich ja längst an meine Grenzen gekommen war. Und in diesem Augenblick konnte ich es ihm nicht verübeln, dass er sich nicht mehr um die Fallen kümmerte, die sie verteilt hatte.
Es schien, als ob alles und jeder – Charity, Mrs. Bethany, Lucas’ eigener Blutdurst – mit mir um seine Seele rang.
Am nächsten Morgen kehrte ich zur Fechthalle zurück. Auch wenn der Unterricht an diesem Tag bereits beendet war, war der Raum noch nicht leer. Balthazar stand in seinem weißen Fechtanzug dort, die Maske auf den Hinterkopf hochgeschoben, und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nachdem die anderen die Fechtstunde beendet hatten, war er noch geblieben, um an seiner Technik zu feilen – und um gegen unsichtbare Gegner zu kämpfen, die nur in seinem Kopf existierten. Ich erinnerte mich daran, dass er dies häufig tat, wenn er gestresst war. Die letzte Nacht war genauso anstrengend für ihn gewesen wie für Lucas und mich.
Langsam nahm ich in der Ecke des Raumes Gestalt an, die dem Eingang gegenüberlag, sodass Balthazar genug Zeit blieb zu gehen, falls er sich nicht mit mir unterhalten wollte. Er blieb. Innerhalb weniger Sekunden waren wir uns wieder nahe, obwohl sich die ganze Breite des Raumes zwischen uns erstreckte.
»Hey«, setzte ich an. Das war zwar ein lahmer Anfang, aber vielleicht war es besser, nicht zu schnell
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