Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
das gefasst, was gleich kommen würde. »Der, der dir etwas angetan hat.«
Raquels dunkle Augen suchten meinen Blick, als ob sie mich anflehen wollten, nicht an derart Schmerzhaftem zu rühren. »Warum?«
»Wir werden uns um ihn kümmern, und alles wird gut werden.«
Es stellte sich heraus, dass Dana und Raquel in einem Vorort von Boston Quartier bezogen hatten, gar nicht weit von der Gegend entfernt, in der Raquel aufgewachsen war. Außerdem hatten sie einen Lieferwagen vom Schwarzen Kreuz mitgehen lassen.
»Man könnte auch sagen, wir haben ihn gestohlen«, bemerkte Dana fröhlich, als wir in den Wagen kletterten, der nach Schießpulver und Pommes roch. »Aber da wir dabei waren, als das Schwarze Kreuz ihn vorher einem toten Vampir abgenommen hat, dachten wir, wir würden den Wagen einfach nur einem neuen Bestimmungszweck zuführen. Klingt auch viel netter, findest du nicht?«
»Sieht aus, als hättet ihr auch einige Waffen einer anderen Bestimmung zugeführt.« Ich warf einen Blick auf das Waffenarsenal hinten im Wagen. »Pflöcke, Weihwasser, und … ist das ein Flammenwerfer?«
»Man weiß nie, wann man den mal gut gebrauchen kann«, sagte Raquel trocken, und ich musste lächeln.
Allerdings alberten wir nicht lange herum. Je näher wir Raquels altem Heim kamen, desto angespannter wurde sie. Sie saß mit einer Schrotflinte vorne, ich war das Phantom auf dem Rücksitz. »Und wie soll das jetzt ablaufen?«, fragte sie.
»Ist ganz einfach.« Dass ich es vorher noch nie getan hatte, erwähnte ich sicherheitshalber nicht. Es brachte schließlich nichts, sie unnötig nervös zu machen, nicht wahr? »Wir brauchen einfach nur einen Spiegel. Hat eine von euch beiden vielleicht eine Puderdose mit Spiegel dabei? Ihr wisst schon, falls ihr euch mal die Nase pudern oder euer Make-up auffrischen wollt.«
Wir hielten gerade an einer Ampel, sodass Dana und Raquel sich zu mir umdrehen und mich anstarren konnten. Nach einer kurzen Pause sagte Dana: »Hi. Kennen wir uns von irgendwoher?«
»Okay, okay, ihr habt also kein Make-up-Täschchen dabei«, beschwichtigte ich sie. »Aber wir müssen irgendwo einen Spiegel herbekommen.«
Wir legten einen kurzen Zwischenstopp an einer Drogerie ein, die die ganze Nacht über geöffnet hatte, und kauften eine Puderdose. Auch wenn mein Körper ziemlich fest war, war es doch schwer für mich, unsere Neuerwerbung auszupacken, und so überließ ich die Sache Raquel. Mit zitternden Händen riss sie die Plastikverpackung und das Papier auf, wobei sie mehr Chaos verbreitete, als nötig gewesen wäre.
»Ich habe mich schon ganz schön lange nicht mehr zu Hause gemeldet«, sagte sie, während sie den Puder in Augenschein nahm. »Und jetzt schlage ich um zwei Uhr nachts bei ihnen auf nach dem Motto › Hallo, erinnert ihr euch noch an den Geist, von dem ihr behauptet habt, er würde nicht existieren?‹«
»Vielleicht müssen wir sie ja gar nicht wecken«, sagte Dana. Ein feiner Nieselregen hatte eingesetzt, und sie schaltete die Scheibenwischer ein, die ein angenehm weiches, gleichmäßiges Surren verströmten. »Macht diese Ghostbuster-Aktion viel Lärm, Bianca?«
»Tja, kann sein. Muss aber nicht.« Ich hoffte, dass das auch der Wahrheit entsprach. »Lasst es uns einfach ausprobieren.«
Raquel war immer ganz offen damit umgegangen, dass sie nicht so reich war wie die meisten lebenden und toten Schüler der Evernight-Akademie. Die Nachbarschaft war jedoch nicht so schlimm, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Vielleicht war ich einfach nur naiv gewesen. Ich hatte wohl geglaubt, wenn man arm war, bedeutete das zwangsläufig, dass man in einem Slum lebte, so wie es einem in schlechten Fernsehshows gezeigt wurde, mit brennenden Autos und Bandenmitgliedern überall. Raquels Eltern wohnten jedoch in einer ruhigen Gegend mit kleinen Häusern, deren Vorgärten winzig waren. Statt dreckig und voller Gewalt war alles grau in grau und heruntergekommen, und an einigen Mülltonnen prangten schlampig und lustlos gemachte Graffiti.
»Wir haben Glück, dass es regnet«, sagte Raquel. »Andernfalls würden an jeder Straßenecke Leute herumlungern.«
Das Haus in der Mitte der Reihe gehörte Raquels Familie. Kaum waren wir aus dem Auto ausgestiegen, wurde uns klar, dass gerade niemand daheim war. »Wo könnten sie denn nur sein?«, fragte Dana, als wir durch die Scheibe auf gepackte Kartons starrten. »Die Möbel stehen noch alle da, also können sie nicht umgezogen sein.«
»Vielleicht besuchen sie
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