Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
möglichst feste Gestalt zu halten, denn die Umarmung fühlte sich viel zu gut an, um sie zu verpassen.
»Du hast es geschafft«, keuchte sie. »Du hast es geschafft. Dieses entsetzliche Ding …«
»Schon gut.« Ich tätschelte ihr den Rücken, als ihr Gelächter in heftiges Weinen umschlug. »Er kann dir nie wieder etwas tun.«
»Das hast du für mich gemacht, nach alldem, was ich dir angetan habe.«
»Ich habe es auch für mich selber getan.«
»Sag einfach nichts mehr, okay?« Raquel drückte mich noch fester an sich; ich erfüllte ihre Bitte und hielt sie wortlos fest, während sie weinte. Über die Schulter hinweg konnte ich sehen, wie Dana mich anstrahlte, als sei ich ihr mit einem Schlag die liebste Person auf der Welt geworden.
Als Raquel sich wieder ein wenig beruhigt hatte, schob ich sie für weitere Umarmungen zu Dana und wandte meine Aufmerksamkeit erneut dem Spiegel zu. Er war dick mit Eis überzogen, doch trotzdem hatte ich das Gefühl, ich konnte eine Bewegung darunter erahnen.
»Was machen wir denn jetzt damit?«, fragte Raquel. »Wollen wir ihn in Zement gießen?«
»Das ist gar keine schlechte Idee.«
In diesem Moment fühlte ich ein Ziehen, beinahe körperlich, als zerre etwas an mir.
»Bianca?« Raquel machte einen Schritt auf mich zu. »Du wirst unsichtbar.«
»Riverton! Nicht vergessen!«, rief ich, ehe ich meine Fähigkeit verlor, mich hörbar zu machen. »Ich werde dafür sorgen, dass Lucas da ist!«
»Bianca«, rief Raquel noch einmal, aber im nächsten Augenblick war ich verschwunden und taumelte durch den blauen Dunst der Leere.
Dann landete ich, jedenfalls schien mir das so. Ich sah hinab und entdeckte weiches, grünes Gras unter mir. Als ich mein Gesicht hob, sah ich Maxie über mir stehen. Sie trug einen seltsamen, dunklen Pelzmantel, der eher unheimlich als luxuriös wirkte.
»Was tust du denn da?«, fragte sie. »Du verbündest dich jetzt mit den Menschen gegen uns?«
»Jemand musste dieses Ding aufhalten.«
»Dieses Ding ? Ding?« Maxie sah aus, als sei sie kurz davor, mir eine Ohrfeige zu verpassen. »Ich schätze, du könntest genauso gut Mrs. Bethany dabei helfen, Fallen aufzustellen.«
Eine dritte Stimme unterbrach unseren Streit. »Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was Bianca getan hat, und Mrs. Bethanys Bestrebungen.«
Wir drehten uns um und sahen Christopher. Also war ich wieder im Land der verlorenen Dinge , aber dieses Mal war ich gegen meinen Willen hierhergezerrt worden. Maxie hatte mir gesagt, dass Christopher mächtig war. Dies jedoch war für mich der erste Beweis dafür, wie viel stärker als jeder durchschnittliche Geist er war.
Doch das machte mir keine Angst, denn ich wusste, dass ich die Kraft hatte, mich selbst zu verteidigen. Über welche Macht auch immer Christopher im Augenblick verfügte, irgendwann würde ich sie ebenfalls erlangen, und vermutlich würde ich weitaus weniger Zeit als er benötigen, um alles Erforderliche zu lernen.
Das Sonnenlicht ließ Christophers dunkelbraune Haare aufleuchten. Sein altmodischer, langer Mantel war von einem tiefen Flaschengrün. Wir befanden uns am Fuße eines Gebäudes, das wie eine Art Pagode aussah, nur dass eine Hochbahn geradewegs aus den Jahren um 1915 hinter dem Gebäude dahinratterte.
»Ich musste sie da herausholen, ehe sie noch etwas Schlimmeres anstellen konnte«, sagte Maxie. Also war sie es gewesen, die sich eingemischt hatte, und nicht Christopher. »Du hättest sie ohnehin nicht zurückkehren lassen sollen.«
»Maxine, beruhige dich.« Christopher legte ihr die Hände auf die Schultern. »Es ist nicht an mir, Biancas Reisen zu erlauben oder zu verbieten. Sie ist freier als all wir anderen. Sie unterliegt nicht unseren Einschränkungen. Mir ist klar, dass das schwer für dich zu akzeptieren ist, aber das wirst du müssen.«
Maxie fauchte: »Ich sehe keinen Unterschied zwischen Mrs. Bethanys und Biancas Taten. Sie hat sich gegen ihre Geisterkameraden gewandt. Und das soll keine Rolle spielen?«
Ich setzte an: »Dieses Ding …«
»Sie nennt es schon wieder Ding!«
»Es hat Menschen verletzt, Maxie«, fuhr ich fort. »Niemand hat das Recht, so etwas zu tun.«
Christopher nickte. »Es ist eine Sache, in Notwehr zu handeln. Etwas ganz anderes ist es, wenn selbstsüchtige Wünsche das Handeln bestimmen – egal, wie verständlich diese Wünsche auch sein mögen.«
Er schien so traurig, dass ich es hasste, noch weitere Fragen zu stellen. Und doch zog ebendiese Niedergeschlagenheit
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