Evianna Ebel und die Tafeln des Schicksals
passiert war, würde sie ihn sicher nicht. Eigentlich wusste sie überhaupt nicht, was sie sagen sollte. Aber dieses Schweigen war auch irgendwie peinlich. Und Keir sah nicht so aus, als wenn er freiwillig der Erste sein würde, der es brach. „Also...“. Evianna verstummte als sie sah wie Keir die Augen schloss. „Ich wusste nicht, dass du und Juno Alexander….“ Keir riss die Augen auf und starrte Evianna an.
„Naja, ich hab’s nach dem Abend im Dr. Doo’s zwar geahnt, aber im richtigen Moment nicht daran gedacht. Sonst hätte ich dein Haus nicht betreten.“ Es folgte ein schier endloser Redefluss Eviannas von dem Keir jedoch so gut wie nichts mitbekam. Das Einzige, was er verstand, war, dass Evianna glaubte, er und Juno wären ein Paar. Er überlegte angestrengt, ob er das Missverständnis aufklären sollte, oder ob es ihm vielleicht im Moment eher gelegen kam. Er entschied sich für die zweite Variante, denn wenn Evianna glaubte, er wäre in einer Beziehung, würde ihm das Gelegenheit geben, die Sache langsam anzugehen. Er konnte das Tempo bestimmen.
„Hörst du mir überhaupt zu?“, fragte Evianna irgendwann und sah ihn seltsam an. Keir nickte automatisch, was Evianna jedoch nicht zu überzeugen schien. Kopfschüttelnd schob sie ihren PPC in die Docking-Station und machte sich daran, ihren Bericht von gestern zu schreiben. Dabei verzichtete sie auf die Erwähnung der Ohnmacht und natürlich auch auf die der Gargoyles. Letztendlich war bei ihrem Ausflug auf das Anwesen Wolf von Ellgotts nichts herausgekommen, was an der abrupten Unterbrechung ihrer Expedition durch einen wild gewordenen Gargoyle lag. Sollte sich in den nächsten Stunden nichts anderes ergeben, würde sie trotzdem noch einmal dorthin gehen.
„Da ist noch etwas“, sagte Keir und deutete auf den Aktenstapel rechts von ihr. Eviannas Blick fiel auf eine Akte, die gestern noch nicht auf ihrem Schreibtisch gelegen hatte. Ein neuer Fall konnte es nicht sein. Fall-Akten waren blau. Diese hier war rot. Rot für Personal-Akte. Sie griff danach und las die Aufschrift. In Druckbuchstaben stand dort: Keir Roddick. Was hatte Keirs Personalakte auf ihrem Tisch verloren? Wahrscheinlich ein Versehen. Wortlos reichte Evianna die Akte über den Tisch.
„Ich möchte, dass du sie liest“, sagte Keir ohne sie anzusehen.
Sie sollte Keirs Personalakte lesen? Wozu sollte das gut sein? Sie hatte im Moment weiß Gott wichtigere Dinge zu tun. „Später vielleicht.“ Evianna legte die Akte beiseite. Keir atmete tief. „Nein. Jetzt.“ Was an diesem Morgen in seinem Haus passiert war, hatte ihm keine Ruhe gelassen. Er hatte Evianna um Verzeihung bitten wollen, doch hatte er keine Ahnung, wie er das anstellen sollte denn sein Verhalten war einfach nicht zu entschuldigen. Eine Erklärung dafür hatte Evianna inzwischen selbst geliefert und sie klang sogar plausibel auch wenn sie nicht der Wahrheit entsprach. Den Irrtum würde er bei passender Gelegenheit aufklären. Das einzige, was er tun konnte, war ihr zu sagen, woran sie mit ihm war. Aber nicht mit eigenen Worten. Das hätte er nicht über sich gebracht. Noch nicht einmal mit einem Psychiater unter Zuhilfenahme von Handpuppen. Es war ihm lieber, sie erfuhr es aus seiner Akte bevor sie es von einem der Kollegen erfuhr. Nur wenn sie sie jetzt nicht las, überlegte er sich die Sache eventuell wieder anders.
Evianna sah Keir an. Er sah mitgenommen aus, so als hätte er nicht geschlafen. „Bitte.“
Also gut. Wenn ihm so viel daran lag. Evianna nahm die Akte und schlug sie auf. Keir wurde unruhig. Es hielt ihn kaum auf seinem Stuhl.
Es dauerte eine Weile, bis Evianna zu den entscheidenden Stellen kam. Als sie fertig war, schob sie die Akte von sich. Sie lehnte sich zurück und sah Keir an.„Du bist vorbestraft. Wegen Vergewaltigung. In zwei Fällen. Und wegen Körperverletzung.“ Keir gab sich alle Mühe, ihrem Blick standzuhalten. Sein Magen krampfte sich zusammen. Gott sei dank, jetzt war es raus.
Das liess die Sache in Keirs Haus in einem ganz anderen Licht erscheinen, auch wenn vielleicht nicht sie es gewesen war, die er dort erwartet hatte. Evianna stand der Sinn nicht danach, sich über das eben gelesene zu unterhalten. Lustlos widmete sie sich wieder ihrem Bericht. Doch so sehr sie auch versuchte, sich darauf zu konzentrieren, sie brachte keine einzige Zeile mehr zustande. Als aus den Lautsprechern an der Decke die Sonnenuntergangs-Durchsage ertönte, beschloss sie, dass es Zeit war für eine Pause.
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