Evolution der Leere: Roman
Augen der ganzen Stadt auf den Turm emporheben, auf dass ich zum Herzen geleitet werden kann. Du, Edeard. Du ganz allein. Wer würde denn nicht für einen solchen Heilsbringer stimmen?«
Edeard gab die Ankunft des Skylords an dem Nachmittag bekannt, als er eine Wahlkampfrede vor den Lehrlingen der Eiformergilde in Ysidro hielt. Zuerst herrschte völlige Stille im Saal, als ob seine Worte keinen rechten Sinn ergeben würden. Dann brach sich eine Woge der Überraschung und Ungläubigkeit Bahn. Longtalk-Rufe schallten heraus zu Familie und Freunden. Dutzende von Händen wurden in die Höhe gereckt und Fragen gebrüllt.
»Die Sache ist ganz einfach«, sagte der Waterwalker. »Die Skylords fliegen wieder nach Querencia. Der erste wird in etwa einer Woche hier sein. Er wird Finitan durch Odins See zum Herzen geleiten.«
»Woher wollt Ihr das wissen?«, riefen mehrere Lehrlinge gleichzeitig aus.
»Ich habe in den letzten paar Nächten mit ihm gesprochen.«
»Wieso Finitan?«
»Weil er von uns allen der Einzige ist, der Erfüllung erlangt hat. Die Art, wie er sein Leben geführt hat, sollte uns allen ein leuchtendes Vorbild sein. Wenn der Skylord in seine Seele blickt, wird er wissen, dass die Zeit gekommen ist, da die Menschen wieder zum Herzen geleitet werden.«
Makkathrans wahre Währung waren von jeher Klatsch und Gerüchte gewesen. Eine Währung, die während der Wahl, wo das Ausgraben von Skandalen und Fehltritten sich besonderer Beliebtheit erfreute und die Kandidaten ihre Rivalen bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu diffamieren suchten, nachgerade inflationär geworden war. Und so machten die Neuigkeiten von dem Skylord in der gleichen Weise die Runde, wie es Neuigkeiten von großer Tragweite in Makkathran stets taten: so geschwind wie die Strahlen der Sonne. Binnen einer Stunde wusste jeder über die tolle Ankündigung des Waterwalkers Bescheid.
Die Astronomische Gesellschaft versprach, dass sie jeden Skylord, der sich Querencia näherte, ausfindig machen würde, und brach unverzüglich ein internes Gezänk über die rechte Observationsmethode vom Zaun. Bürgermeister Trahaval enthielt sich vorsichtshalber einer direkten Stellungnahme oder Kritik. Hauptkonstabler Yrance tat die Sache als einen lächerlichen Stimmenfangversuch ab, und seine Wahlkampfhelfer verbreiteten rasch ihren Hohn und Spott in der Stadt. Ein Zeichen für die Schwäche des Waterwalkers, tönten sie allerorten herum, ein Trick, eine Lüge. Er habe seine Glanzzeit hinter sich. Er leide unter Wahnvorstellungen. Ein ewig Gestriger. Die Stadt brauche jemand Bodenständigen und Realistischen, jemanden, der tatsächlich Erfolge hervorbringen könne, einen Mann wie den amtierenden Hauptkonstabler Yrance.
Unter Dinlays Regie tobte ein wahrer Sturm von Gegenbehauptungen von Distrikt zu Distrikt. Der Skylord sei real. Er sei gekommen, wie es die Herrin prophezeit habe. Finitan werde zum Herzen geleitet, weil er ein der Herrin gefälliges Leben geführt habe. Wer sonst außer dem Waterwalker sei imstande, Querencia die letzte Erlösung zu bringen? Er sei der eine, sie alle zu führen. Edeard, ihr standhafter Führer, ein Führer in eine Zukunft, nach der sie alle nun schon so lange trachteten und strebten.
»Ich kann nur hoffen, dass du mit dieser Sache recht behältst«, sagte Dinlay, als Edeard fünf Tage darauf am Ruhesitz der Eiformergilde eintraf.
»Hab' ein bisschen Vertrauen«, erwiderte Edeard ein wenig gekränkt seinem alten Weggefährten und Freund. Von ihnen allen war Dinlay stets der treueste gewesen. Außerdem war er derjenige, der sich Edeards Dafürhalten nach über die Jahre am wenigsten verändert hatte. Seit acht Jahren war Dinlay jetzt schon Hauptmann der Lillylight-Wache. Ein Aufstieg, der seinerzeit von dem wohlhabenden Distrikt ausdrücklich begrüßt worden war; die Einsetzung eines Mannes aus dem ursprünglichen Trupp des Waterwalkers, um die Konstabler zu leiten, die ihre Straßen schützten, war ein recht guter Fang. Einfluss und Stellung gingen, speziell diesen Bürgern, über alles.
Natürlich hatte sich Dinlay (wie von Edeard nicht anders erwartet) perfekt eingefügt. Offizielle gesellschaftliche Ereignisse, wie sie so ganz nach seinem Geschmack waren, gab es in Lillylight reichlich. Die Wache war effizient organisiert. An der Ausbildung einer neuen Konstablergeneration war er aktiv beteiligt und brachte damit ebenso qualifizierte wie effektive Abteilungen hervor. Die Strafverfolgungsadvokaten erzielten hohe
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