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Evolution, Zivilisation und Verschwendung

Evolution, Zivilisation und Verschwendung

Titel: Evolution, Zivilisation und Verschwendung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Mersch
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Reproduktionsinteresse von Individuen eine ökonomisch abschätzbare Größe gemacht. Heute lassen sich Reproduktionsentscheidungen nach Nutzen- und Kostengesichtspunkten bewerten, im 19. Jahrhundert war dies dagegen noch nicht möglich.
    Die Systemische Evolutionstheorie hat diesem Umstand Rechnung getragen, in dem sie konstatiert, dass sich das Fertilitätsverhalten von modernen Gesellschaften nun mittels der ökonomischen Theorie der Fertilität relativ korrekt beschreiben lässt.
6.1.8 Norbert Elias
    Norbert Elias widmete sich in seinen Arbeiten intensiv der Frage, wie die Entstehung der Moderne und der Prozess der Zivilisation zu erklären sind.
    Dabei stellte er fest, dass über die letzten Jahrhunderte hinweg (Retter 2000: 50)
bei den Menschen ein Wandel der Affekt- und Kontrollstrukturen stattgefunden hat;
dieser Wandel immer in dieselbe Richtung ging, nämlich von einer relativ ungezügelten Affekt- und Triebäußerung hin zu einer zunehmenden Straffung und Disziplinierung der Triebkontrollen und
der Wandel mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Europa, die der Staatenbildung Vorschub leistete, einherging.
    Elias untersuchte anhand von historischen Quellen insbesondere die Art des Sprechens, die Tischsitten und die Einstellung zu „natürlichen“ Bedürfnissen 165 und gelangte zu folgender Erkenntnis (Retter 2000: 51):
Die intimen Triebregungen waren im ausgehenden Mittelalter noch keineswegs so tabuisiert, wie sie es heute sind. Die Grenze zwischen „intim“ und „öffentlich“ war viel weiter und viel durchlässiger.
Das Erlernen von Ekelschranken und Schambarrieren ist Bestandteil frühkindlicher Sozialisation. Kinder sind heute einer viel stärkeren Affektkontrolle unterworfen als im ausgehenden Mittelalter.
Der Gang der Zivilisation ist der Gang zunehmender Affektbeherrschung und Triebkontrolle.
    Gemäß Elias ging die zunehmende Affektkontrolle des Individuums in der Öffentlichkeit Hand in Hand mit der sich verstärkenden Arbeitsteilung in den Produktionsprozessen. War in früheren Zeiten die äußere Angst vor schwerer Strafe ein verhaltensregulierendes Moment, so ist der moderne Mensch in der Lage, diese Verhaltensregulierung selbst zu übernehmen und zu steuern (Retter 2000: 52).
    Elias folgerte (Retter 2000: 51): Der Prozess der Zivilisation ist ein Prozess der Verhaltensregulierung, die in der Moderne notwendig erscheint, damitein Leben in komplexen, arbeitsteiligen Gesellschaften überhaupt möglich ist. Alles, was nicht in die Verhaltenserwartungen, die zum reibungslosen, planbaren Ablauf gehören, hineinpasst, wird in den Bereich des Privaten abgedrängt.
    Das Ausrichten des Verhaltens des Einzelnen an bestimmten Standards erwächst also aus der Komplexität der Gesellschaft, deren Steuerbarkeit von der Kalkulierbarkeit des Verhaltens im öffentlichen Leben abhängt. Die Trennung von öffentlichem und privatem Verhalten bringt für den Einzelnen einen problematischen Zustand, denn Triebregungen und Gefühle werden unter den Druck von Verhaltenserwartungen der öffentlichen Meinung gestellt. Die Einstellung auf den Anderen und die Reflexion seiner Erwartungen führen bis zu einem gewissen Grad auch zu Spontaneitätsverlusten (Retter 2000: 52). Denn die Verhaltenserwartungen über das, was sich gehört und was nicht, sind wechselseitig und werden wechselseitig kontrolliert. Wer etwa gegen eine Benimmregel zufällig verstößt, fühlt sich meist gleich von dem Gedanken peinlich berührt: „Was könnten die anderen von mir denken?“
    Elias untersuchte Lebensbereiche, in denen die eigenen Verhaltensstandards in besonderem Maße der Kontrolle Dritter ausgesetzt sind. Sie vermögen deshalb besonders wirkungsvoll unser Verhalten zu differenzieren und zu modellieren (Retter 2000: 52):
das Verhalten beim Essen (zum Beispiel der Gebrauch von Messer und Gabel);
die Höflichkeit des Sprechens;
die Verrichtung natürlicher Bedürfnisse;
Schnäuzen und Spucken in Gegenwart Dritter;
das Verhalten im Schlafraum;
die Beziehung zwischen Mann und Frau;
aggressives Verhalten.
    Insgesamt interpretiert Elias die Entwicklung als einen Prozess von der öffentlichen Kontrolle hin zur Selbstkontrolle beziehungsweise der Umwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge. Die Veränderung des menschlichen Verhaltens der Empfindungen und Affekte lässt sich für Elias folglich als ein Teil des Zivilisationsprozesses deuten.
    Bei Zivilisation handelt es sich demgemäß zunächst um die langfristige Umwandlung von

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