Evolution, Zivilisation und Verschwendung
Außenzwängen in Innenzwänge. Das Interessante an dieser Theorie ist nun, dass Elias die genannten langfristigen psychogenen Veränderungen in Beziehung setzt zu parallel stattfindenden langfristigen sozialen Veränderungen, zum Beispiel der Staatenbildung in Europa (Korte 2004: 125), aber auch anderen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen.
So ist die frühe Phase der gesellschaftlichen Entwicklung in Europa – beginnend mit dem Feudalismus – gegenüber späteren Entwicklungsphasen (Moderne, Industrialisierung) durch die Dominanz der Naturalwirtschaft, den geringen Grad des Geldgebrauchs, der Handelsverflechtungen und der Arbeitsteilung und einen geringen Grad der Staatsbildung und Pazifizierung bestimmt, wobei Letzteres vor allem auf den geringen Grad der Monopolisierung von physischer Gewalt und ein entsprechend hohes Maß an körperlicher Bedrohung und beständiger Unsicherheit des Einzelnen zurückzuführen ist (Korte 2004: 127f.).
Dies hat erhebliche Konsequenzen: Wer ständig bedroht ist, kann nicht langfristig planen. Wer häufig angegriffen wird, für den kann eine affektive Hemmung der eigenen Gewaltbereitschaft gefährlich bis tödlich sein. In dieser Phase der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmen folglich Fremdzwänge das Leben der Menschen.
Der langfristige, ungeplante soziale Prozess der Staatsbildung in Europa führt zunächst zu einer Verkleinerung der Zahl der Konkurrenten, dann zur Monopolstellung einiger Fürsten und schließlich zur Herausbildung des absolutistischen Staates mit der Monopolisierung der physischen Gewalt durch staatliche Organe. Der Prozess der Staatsbildung ist verflochten mit dem Übergang von der Natural- zur Geldwirtschaft, der Zunahme der Arbeitsteilung, der Handelsverflechtungen, der Verstädterung und dem sozialen Aufstieg des Bürgertums. Aber er ist auch verflochten mit dem anderen Strang des Zivilisationsprozesses, der Veränderung der psychischen Strukturen der beteiligten Menschen (Korte 2004: 128). Von nun an ersetzt die langfristige Planung den Kampf.
Elias resümiert: Der Prozess der zivilisatorischen Verhaltensmodellierung war nur möglich, indem am Ausgang der modernen Staatenbildung ein Staat in Europa das Gewaltmonopol innehatte und durch Ausbildung entsprechender Verhaltensweisen seiner führenden Schichten für Stabilität sorgte.
Langfristige Verhaltensänderungen bei den Menschen und der durch sie gebildeten Organisationen erhalten gemäß Elias ihre Antriebe aus der Konkurrenz interdependenter Menschen und Menschengruppen um Macht (Korte 2004: 129). So schreibt er etwa (Elias 1997b: 366):
Die Angst vor dem Verlust oder auch nur vor der Minderung des gesellschaftlichen Prestiges ist einer der stärksten Motoren zur Umwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge.
Für Elias sind gesellschaftliche Veränderungen der Normalfall und nicht etwa Abweichungen von der Norm, wie es einige systemtheoretische Ansätze des sozialen Wandels behaupten. In diesem Sinne ist Zivilisation nichts Statisches, sondern der langwirkende Prozess der individuellen Selbstregulierung trieb- und affektbedingter Verhaltensimpulse. Nicht die Zivilisation ist das eigentlich Feststehende, sondern der sich verändernde Zwang zum Selbstzwang und das Erlernen individueller Selbstregulierungen im Zusammenleben mit anderen Menschen (Korte 2004: 126).
Die Ergebnisse von Norbert Elias decken sich in vielen Aspekten mit denen der
Systemischen Evolutionstheorie
, allerdings werden sie anders herausgearbeitet und zum Teil auch anders formuliert.
Beispielsweise sind Menschen und soziale Systeme (insbesondere Organisationen) gemäß der Systemischen Evolutionstheorie Systeme, die sich selbst erhalten wollen. Dazu gehört auch der Erhalt der Anpassung an die primäre selektive Umwelt, in diesem Falle also an das soziale Umfeld beziehungsweise die Märkte. Dem Erhalt der Anpassung entspricht aber der Erhalt von Kompetenzen, oder bei Menschen auch nur der sozialen Stellung beziehungsweise des gesellschaftlichen Prestiges. Im Sinne der Systemischen Evolutionstheorie besitzen Menschen und ihre Organisationen folglich immer einen Selbstzwang, nämlich den Zwang zum Erhalt der eigenen Identität und der Kompetenzen in Relation zu anderen, damit aber auch der sozialen Stellung. Dieser „Selbstzwang“ wurde im vorliegenden Buch bereits als wesentlicher Motor der Evolution sozialer Systeme und damit auch von Gesellschaften ausgemacht. Die Aussagen der Systemischen Evolutionstheorie decken sich
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