Evolution
lesen.
Diese neue Fähigkeit hatte ihn auf einer höheren Ebene
selbstbewusst gemacht. Die beste Methode, die Gedanken eines anderen
zu ergründen bestand darin, die eigenen Gedanken zu studieren: Wenn ich sähe, was sie sieht, und wenn ich glaubte, was sie
tut, was würde ich tun…? Es war eine Innenansicht, eine
Reflexion: die Geburt des Bewusstseins. Wenn Capo sein Gesicht im
Spiegel gesehen hätte, dann hätte er gewusst, dass er
selbst das war und nicht etwa ein Artgenosse in einem Fenster.
Seine Art waren die ersten Tiere seit den Jägern von
Pangäa, die dieses Intelligenzniveau erreicht hatte.
Schließlich entfernten Wedel und Finger sich von dem
Blätterhaufen. Capo schnappte sich den Hammer-Stein, um die
Palmnüsse zu knacken. Er würde den beiden später noch
eine Tracht Prügel verabreichen – aus Prinzip. Sie
würden nie verstehen, weshalb sie die Haue eigentlich
bezogen.
Er schob das Laub beiseite, unter dem sein
Lieblings-›Amboss‹ versteckt war: ein flacher, im Boden
versenkter Stein. Um das Hinterteil zu schützen, breitete er
etwas Laub auf dem feuchten Boden aus. Dann setzte er sich hin und
zog die Beine an die Brust. Er legte eine Palmnuss auf den Amboss,
hielt sie mit dem Mittel- und Zeigefinger fest und schlug mit dem
Hammer zu, wobei er die Finger im letzten Moment wegzog. Die Nuss
rollte unter dem Hammer und flutschte unbeschädigt weg; Capo
hielt sie auf und versuchte es erneut. Es war eine knifflige
Prozedur, die viel Geschick erforderte. Doch schon nach dem dritten
Versuch hatte Capo die erste Nuss geknackt und aß die Kerne
auf.
Siebenundzwanzig Millionen Jahre nach Streuner und ihrer
Verfahrensweise, Nüsse gegen Äste zu schleudern, war dies
der Stand der Technik auf der Erde.
Capo knackte der Reihe nach die Nüsse. Er verlor sich
förmlich in dieser diffizilen Tätigkeit und verdrängte
die diffusen Ängste, die ihm zu schaffen machten, aus dem
Bewusstsein. Es war inzwischen Vormittag, und für eine Weile
verspürte er Zufriedenheit. Das Wissen, dass er genug Nahrung
beschafft hatte, um den Hunger zumindest für ein paar Stunden zu
unterdrücken, befriedigte ihn.
Elefant kam vom intensiven Aroma der Nüsse angelockt herbei,
um zu sehen, was hier los war. Das Magenproblem des Jungen war durch
Heulens Kräutermedizin offensichtlich behoben worden – oder
vielleicht hatte er auch nur simuliert, um Zuwendung zu erhalten
–, und er hatte Hunger bekommen. Er sah Reste von Nussschalen um
den Amboss und sogar ein paar Splitter der Kerne. Das Junge schnappte
sich diese Reste und stopfte sie sich in den Mund.
Capo ließ ihn großmütig gewähren.
Nun kam Blatt mit dem Kind auf dem Rücken vorbei.
Capo ließ den Hammer-Stein fallen und griff nach Blatt. Er
kämmte ihr den Bauch, eine Zuwendung, die sie sich gern gefallen
ließ. Blatt, ein großes, sanftes Wesen, war eins seiner
Lieblings-Weibchen. Überhaupt wurde sie von allen Männchen
der Sippe begehrt, die sich darum stritten, sie kämmen zu
dürfen.
Doch Capo begnügte sich nicht damit, sie zu kämmen. Bald
schon stach sein Penis aus dem Fell, und mehr Kämmen würde
Blatt nicht bekommen. Blatt hob vorsichtig das Junge vom Rücken
und setzte es auf den Boden. Dann hob sie das Hinterteil und
ließ Capo in sich eindringen. Während er sie stieß,
hob sie das Hinterteil noch höher, sodass der Kopf nach unten
gerichtet war und das Gewicht auf dem Schädel ruhte. Die
Menschenaffen nahmen bei der Paarung oft diese Stellung ein. Auch
hier kam Empathie zum Tragen: Sie verschafften sich gegenseitig
Lustgewinn beim Kämmen und beim Kopulieren.
Capo und Blatt standen sich nah. Obwohl sie sich auch mit anderen
paarten, verschwanden Capo und Blatt manchmal tagelang im Wald –
die beiden ganz allein –, und auf solchen
›Lustreisen‹, die die sexuelle Intimität späterer
Arten vorwegnahmen, hatte Blatt die meisten Kinder von Capo
empfangen, einschließlich Elefant.
Was Capo und Blatt in solchen Momenten füreinander empfanden,
war mit menschlicher Liebe natürlich nicht zu vergleichen. Jeder
der Menschenaffen blieb im Gefängnis der Sprachlosigkeit
eingesperrt; ihre ›Sprache‹ war noch nicht viel
differenzierter als ein Schmerzensschrei. Aber sie waren dennoch
weniger einsam als die meisten Geschöpfe auf dem Planeten –
weniger einsam als alle, die jemals gelebt hatten.
Inzwischen beschäftigte Elefant sich mit Capos Werkzeugsatz.
Er schlug Nuss gegen Kieselstein, Kieselstein gegen Amboss.
Capos Menschenaffen mussten von
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