Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
Bauch. Manchmal stellte sie
sich vor, es sei Still, der von den Toten zurückkehrte und sich
auf eine neue Geburt vorbereitete. Der Schmerz im Kopf kehrte mit der
alten Wucht zurück. Die Lichtblitze zuckten hinter den Augen
auf, Zickzack-Linien und Gitter und Sterne, die wie Eiterbeulen
aufplatzten. Es wurde schließlich so schlimm, dass sie nur noch
im Schein der blakenden Tranfunzel in der Hütte lag und den
Stimmen lauschte, die in ihrer großen Hirnschale
widerhallten.
    Und dann kam Schössling zu ihr. Sie vermochte ihn durch die
wabernden Muster kaum zu erkennen. Aber sie musste ihm etwas
Wichtiges sagen. Mit der klauenartigen Hand packte sie ihn am Arm.
»Hör«, sagte sie.
    »Du schlafen«, sagte er in einem Singsang, als ob er zu
einem Kind spräche.
    »Nein, nein«, widersprach sie mit einer Stimme wie ein
Reibeisen. »Nein du. Nein ich.« Sie hob den Finger
und tippte sich an den Kopf und auf die Brust. »Ich, ich. Mutter.« In ihrer Sprache war das entsprechende Wort ein
gehauchtes ›Ja-ahn.‹
    Eine neue Verbindung war hergestellt worden. Nun hatte sie sogar
ein Symbol für sich selbst: Mutter. Sie war die erste Person in
der Menschheitsgeschichte, die einen Namen hatte. Und obwohl sie ohne
ein überlebendes Kind starb, glaubte sie, dass sie die Mutter
von ihnen allen sei.
    »Ja-ahn«, flüsterte Schössling. »Ja-ahn.« Er lächelte sie verstehend an. Er
beugte sich über sie und legte die Lippen auf ihren Mund. Und er
hielt ihr die Nase zu.
    Als ihre geschwächten Lungen unter dem Todeskuss um Luft
rangen, senkte die Dunkelheit sich schnell über sie.
    Sie hatte jedem in der Gruppe zugetraut, dass er ihr irgendwann
etwas Böses wollte. Jedem außer Schössling, ihrem
ersten Jünger. Seltsam, sagte sie sich.
    Eine wachsende Überzeugung, dass hinter jedem Ereignis
Absicht steckte – sei es ein böser Gedanke im Bewusstsein
eines anderen oder die gütige Laune eines Gottes im Himmel
– war bei Geschöpfen mit einem angeborenen Verständnis
von Kausalität vielleicht zwangsläufig. Wenn man
intelligent genug war, um Kombi-Werkzeuge anzufertigen, gelangte man
schließlich auch zu der Überzeugung, dass Götter am
Ende aller Kausalketten stünden. Das war natürlich mit
Kosten verbunden. Um den neuen Göttern und Schamanen zu dienen,
würden die Leute in Zukunft große Opfer bringen
müssen: an Zeit, materiellen Gütern und sogar das Recht,
Kinder zu haben. Manchmal würden sie sogar ihr Leben opfern
müssen. Doch der Lohn dafür war, dass sie keine Angst mehr
vorm Tod haben mussten.
    Und so fürchtete Mutter sich nicht. Schließlich gingen
die Lichter in ihrem Kopf aus, die Bilder verblassten und der Schmerz
verschwand.

 
KAPITEL 12

DER FLOSS-KONTINENT

     
    Indonesische Halbinsel,
Südostasien, vor ca. 52.000 Jahren
I
     
     
    Die beiden Brüder schoben das Kanu vom Flussufer ins Wasser.
»Vorsicht, Vorsicht… Weiter nach links. Alles klar, wir
haben’s geschafft. Wenn wir uns nun nach rechts halten, glaube
ich, dass wir durch diesen Kanal kommen…« Ejan saß
vorn im Rindenkanu, sein Bruder Torr hinten. Die beiden Männer
waren zwanzig und zweiundzwanzig Jahre alt; sie waren klein, drahtig
und hatten haselnussbraune Haut und schwarzes Haar.
    Sie manövrierten das Boot durch einen Wasserlauf, der mit
Schilf, Treibgut und angeschwemmten Bäumen verstopft war. Bei
den Bäumen, die das Ufer säumten, handelte es sich um Teak,
Mahagoni, Karaya und Mangroven. Ein riesiger durchscheinender Vorhang
aus Spinnennetzen hing über dem Geäst. Er filterte das
Licht und ließ das intensive Grün des Waldes verblassen.
Doch überm Fluss lastete die Hitze wie ein riesiger Deckel, und
die Luft war von Licht durchflutet. Ejan schwitzte schon stark, und
die dichte, feuchte Luft war kaum zu atmen.
    Man hätte es kaum für möglich gehalten, dass dies
eine Szenerie mitten in der letzten Eiszeit war – zeitgleich
wanderten in der nördlichen Hemisphäre Riesenhirsche im
Windschatten kilometerdicker Eiskappen.
    Schließlich erreichten sie das offene Wasser, sahen aber
bekümmert, wie überfüllt es war.
    Es herrschte ein dichter Verkehr von Rindenkanus und
Einbäumen. Manche Familien fuhren in zwei oder drei Kanus, die
sie der Stabilität wegen vertäut hatten. Zwischen diesen
Flotten schwammen primitivere Fahrzeuge, Flöße aus
Mangroven, Bambus und Schilf. Und es gab auch Fischer, die weder
Boote noch Flöße hatten. Eine Frau watete ins Wasser
hinaus und erschlug mit einem Paar Stöcken die Fische,

Weitere Kostenlose Bücher