Evolution
die meisten von uns in ein paar Tagen sterben.
Falls diese Lage jedoch zu unserer Zufriedenheit gelöst wird,
werden wir vielleicht alle überleben. Aber wir sind auch bereit,
dafür zu sterben, woran wir glauben. Sind Sie das
auch?«
»Wollen Sie auf den Tisch?«, fragte Joan nach kurzer
Überlegung.
Er ging vorm Kaffeetisch auf und ab und ließ sich das
Angebot durch den Kopf gehen. Der absurde kleine Tisch war das
Zentrum der Macht in diesem Raum: Natürlich wollte er auf den
Tisch. »Ja. Kommen Sie runter!«
Alyce half ihr vom Tisch herunter. Elisha sprang mit einem
geschmeidigen Satz auf Joans improvisiertes Podium und erteilte
seinen Kameraden mit bellender Stimme Befehle in einer Sprache, die
wie Schwedisch klang.
»Klassisches Primaten-Verhalten«, murmelte Alyce.
»Männliche Dominanzhierarchien. Paranoia. Xenophobie an der
Grenze zur Schizophrenie. Das verbirgt sich unter dem Deckmantel des
Freiheitskampfes.«
»Aber wir müssen uns mit diesen Freiheitskämpfern
arrangieren, wenn wir hier unbeschadet raus wollen…«
Der Rest des Satzes ging in einem lauten Flappen unter, als ob ein
Flugsaurier zum Landeanflug auf dem Dach des Hotels ansetzte. Es war
ein Hubschrauber, der über dem Hotel schwebte. Und dann
dröhnte eine megaphonverstärkte Stimme durch die Wände
und gab sich als Polizei zu erkennen.
Die Terroristen feuerten mit ihren Waffen durchs Dach, worauf noch
mehr Stücke von der Decke herunterkamen. Die Konferenzteilnehmer
duckten sich schreiend und verstärken somit noch das Tohuwabohu,
das die Angreifer erzeugen wollten, sagte Joan sich und presste sich
die Hände auf die Ohren. Als die Polizei die Durchsage abbrach,
wurde das Feuer eingestellt.
Joan stand vorsichtig auf und klopfte sich den Staub ab. Sie hatte
seltsamerweise keine Angst. Sie schaute zu Elisha auf, der mit rotem
Kopf und schwer atmend auf dem Kaffeetisch-Podium stand; die Waffe
hatte er sich über die Schulter gelegt. »Sie haben keine
Chance, das zu bekommen, was Sie wollen – was auch immer es ist
–, wenn Sie nicht mit ihnen sprechen.«
»Aber ich muss doch gar nicht mit der Polizei sprechen oder
mit ihren Psychologen, die einem immer nur das Wort im Mund umdrehen.
Nicht, wenn ich Sie hier habe – Sie, die selbsternannte
Führerin der neuen Globalisierung, dieses holon.«
Alyce seufzte. »Wieso habe ich nur das Gefühl, dass ein
so harmloses Wort plötzlich zum Namen eines neuen Dämons
wird?«
»Wir haben Ihrer grandiosen Rede unterm Dach gelauscht, im
Schutz der Dunkelheit – wie überaus passend!«
»Sie verstehen wirklich…«, sagte Joan. Sie
verstehen wirklich gar nichts. Die falschen Worte, Joan.
»Bitte. Sagen Sie mir Ihr Anliegen.«
Er musterte sie. Dann stieg er vom Tisch herunter.
»Hören Sie mir zu«, sagte er leise. »Ich habe
gehört, was Sie über den Globalorganismus gesagt haben, zu
dem wir uns bald vereinigen müssen. Klingt gut. Aber jeder
Organismus braucht auch eine Grenze. Was ist mit denjenigen jenseits
der Grenze? Dr. Joan Useb, wissen Sie eigentlich, dass die
dreihundert reichsten Leute des Planeten mehr besitzen wie die
ärmsten drei Milliarden ihrer Mitmenschen? Hinter der
Bastion der Elite sind ein paar Regionen praktisch versklavt, und die
Arbeitskraft und die Körper dieser Menschen werden ausgebeutet
– beziehungsweise Teile ihres Körpers. Wie soll Ihr
globales Nervensystem auf ihr Elend reagieren?«
Ihre Gedanken jagten sich. Alles, was er sagte, klang auswendig
gelernt. Natürlich war es das: Dies war sein Moment, die
Wegscheide seines Lebens; bei allem, was sie nun tat, musste sie das
berücksichtigen. War er vielleicht ein Student? Wenn er eine Art
kultureller Kolonial-Typ der letzten Tage auf einem Schuld-Trip war,
dann vermochte sie vielleicht irgendwelche Schwachstellen bei ihm zu
finden und dort anzusetzen.
Aber er war auch ein Mörder, wie sie sich erinnerte. Er hatte
eiskalt getötet, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie fragte sich,
welche Drogen er wohl nahm.
»Entschuldigen Sie mich«, sagte jemand. Dieser Jemand
erwies sich als Alison Scott. Sie stand vor Elisha und hatte ihre
beiden verängstigten Töchter an ihrer Seite; ihr
blaugrünes Haar leuchtete im flackernden Schein der
Wände.
Joan verspürte plötzlich einen Schmerz im Unterleib, der
so heftig war, dass ihr die Luft wegblieb. Sie hatte das Gefühl,
dass die Dinge außer Kontrolle gerieten.
Bex starrte sie anklagend an.
»Bex, bist du in Ordnung?«
»Sie hatten doch gesagt, dass vom Rabaul keine
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