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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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Bewegung, und sie
hörte das entfernte Wimmern einer Sirene wie das Heulen eines im
Nebel verlorenen Tiers. Alles, was sie sah, war das dunkel lackierte,
nackte Blechdach des Fahrzeugs, diese bedeutungslosen
Ausrüstungsgegenstände und Alyces schmales Gesicht.
    »Hören Sie, Alyce.«
    »Ich bin hier.«
    »Ich habe Ihnen noch gar nicht die wahre Geschichte meiner
Familie erzählt.«
    »Joan…«
    »Falls ich das hier nicht überlebe«, sagte sie
scharf, »erzählen Sie meiner Tochter, woher sie
kam.«
    Alyce nickte verstehend. »Sie sind als Sklaven nach Amerika
gekommen.«
    »Mein Urgroßvater hat die Geschichte rekonstruiert. Wir
stammten aus dem heutigen Namibia, aus der Gegend von Windhuk. Wir
waren San, die so genannten ›Buschmänner‹. Wir
wären fast von den Bantu ausgerottet worden, und in der
Kolonialzeit wurden wir wie Ungeziefer getötet. Aber wir
bewahrten uns dennoch einen Teil unserer kulturellen
Identität.«
    »Joan…«
    »Alyce, aus Genfrequenz-Untersuchungen geht hervor, dass der
weibliche DNA-Strang der San-Frauen viel stärker differenziert
ist als überall sonst bei Frauen auf der Erde. Daraus folgt,
dass die San-Gene schon viel länger im südlichen Afrika
vorkommen als alle anderen Gene sonst wo auf der Erde. Die Leute der
San-Ahnenreihe sind diejenigen, die der direkten Abstammungslinie von
unserer gemeinsamen Urmutter, der mitochondrischen Eva, am
nächsten stehen.«
    Alyce nickte. »Ich verstehe. Dann ist Ihr Kind also einer der
jüngsten Menschen auf dem Planeten und zugleich der
älteste.« Alyce nahm ihre Hand. »Ich verspreche, dass
ich es ihr sagen werde.«
    Der Schmerz kam nun in Wellen. Sie hatte das Gefühl, als ob
das Bewusstsein sich auflöste, und sie versuchte einen klaren
Gedanken zu fassen. »Wissen Sie, statistisch gesehen finden
menschliche Geburten in der Regel nachts statt. Ein uraltes
Primaten-Merkmal, als Kinder noch in der Sicherheit eines
Baumkronen-Nests geboren wurden oder wenigstens im Schutz der
Dunkelheit.«
    »Joan…«
    »Lassen Sie mich reden, verdammt. Reden lindert den
Schmerz.«
    »Medikamente lindern den Schmerz.«
    »Au! Jetzt geht’s aber los. Ist eine Hebamme in
dieser verdammten Karre?«
    »Das sind alles ausgebildete Rettungssanitäter. Sie
brauchen keine Angst zu haben.«
    »Ich glaube, meine Tochter will unbedingt einen Blick in
diesen Krankenwagen werfen.«
    »Sie wissen, wie es gemacht wird. Atmen. Pressen.«
    Sie atmete und schnaufte stoßweise.
    Alyce behielt den Schauplatz des Geschehens im Auge. »Sie
machen das gut.«
    »Selbst wenn ich das Becken einer Pithecinen habe.«
    »Sie sind wirklich eine Ulknudel, Joan Useb.«
    »Jetzt nicht mehr.«
    »Sie kommt. Sie kommt.«
    Die Schädelknochen des Babys waren weich, und so vermochte
sich der große Homo Sapiens-Schädel unter dem
Druck, mit dem er durch den Geburtskanal gepresst wurde, zu
verformen. Und es vermochte bis zum Moment der Geburt ohne Sauerstoff
auszukommen. Diese letzten Momente waren die extremste
körperliche Umwandlung, die es bis zum Augenblick des Todes
selbst erfahren würde. Jedoch wurde der Körper des Babys
mit Opiaten und Analgetika geflutet. Es verspürte keinen
Schmerz, nur die Fortsetzung des langen Gebärmutter-Traums, aus
dem sich sein Selbst, seine Identität allmählich
herauskristallisiert hatte.
    Ein mit einem Raumanzug bekleideter Sanitäter nahm Joans
Kind, blies ihm in die Nase und gab ihm einen Klaps auf den
Rücken. Ein kräftiges Schreien erfüllte den
Krankenwagen. Das feuchte kleine Würmchen wurde schnell in eine
Decke gewickelt und Joan übergeben.
    Die erschöpfte Joan berührte staunend die Wange ihrer
Tochter. Das Kind drehte den Kopf und machte saugende
Mundbewegungen.
    Alyce lächelte. Sie war selbst verschwitzt und erschöpft
wie eine stolze Tante. »Bei Gott, sehen Sie nur – auf ihre
Art und Weise kommuniziert sie schon mit uns. Sie ist schon ein
richtiger Mensch.«
    »Ich glaube, sie will nuckeln. Aber ich habe noch keine
Milch, oder?«
    »Legen Sie sie trotzdem an die Brust«, riet Alyce ihr.
»Dadurch wird die Bildung von Oxytocin angeregt.«
    Nun erinnerte Joan sich wieder an die Kurse für werdende
Mütter. »Wodurch der Uterus sich zusammenzieht, die Blutung
verringert und das Ausstoßen der Plazenta unterstützt
wird.«
    »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, sagte ein
Raumanzug. »Wir haben Ihnen schon eine Spritze
gegeben.«
    Joan legte das Kind an die Brust. »Schauen Sie nur. Sie macht
schon Greifbewegungen. Und es ist, als ob

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