Evolution
hunderte Kilometer im Süden; es würde
noch Wochen dauern, bis sie die Sommerweiden erreichten, und die
Vögel ließen auch noch auf sich warten. Noth war aber
schon wach und trieb sich wieder draußen herum.
Nach dem Winterschlaf war er abgemagert, und der Schwanz war
schlapp und hatte das ganze Fett verloren. Das zerzauste und von Urin
gelb befleckte Fell hing wie eine von der Sonne angestrahlte Wolke um
ihn und ließ ihn doppelt so groß erscheinen, wie er
eigentlich war. Weil das Nahrungsangebot der Bäume noch immer
dürftig war, musste er über den mit pflanzlichen
Abfällen übersäten eiskalten Boden laufen. Nach der
Winterkälte hatte es den Anschein, als ob hier niemand jemals
gelebt hätte, und überall markierte er Steine und
Baumstämme mit seinem Duft.
Um ihn herum waren die Männchen auf Futtersuche, wobei eine
große Konkurrenz zwischen ihnen herrschte. Sie waren nun alle
erwachsen: Sogar diejenigen, die vor kaum einem Jahr geboren worden
waren, hatten fast ihre volle Größe erreicht, während
›Veteranen‹ wie der Kaiser selbst, dessen dritter
Geburtstag nahte, sich steifer als im vergangenen Jahr bewegten. Nach
dem auszehrenden Winterschlaf machten alle einen kränklichen
Eindruck, und die anhaltende Kälte fraß sich durch das
lose Fell in die abgemagerten Körper.
Es war aber riskant, so früh sich schon zu bewegen. In den
Höhlen schliefen noch immer die Weibchen und brauchten die
letzten Wintervorräte auf. Die Räuber waren auch schon
aktiv, und wegen des Futtermangels waren
›Frühaufsteher‹-Primaten ein lohnendes Ziel. Wenn eins
der Männchen auf ein unerwartetes Futterdepot stieß, wurde
er schnell von schnappenden Rivalen umzingelt, und der leere Wald
hallte wider von ihrem Kreischen und Kläffen.
Noth hatte aber keine andere Wahl, als sich der Kälte
auszusetzen. Es nahte nämlich die Paarungszeit, eine Zeit harter
Auseinandersetzungen zwischen den Männchen. Noths Körper
wusste, je eher er für die bevorstehenden Kämpfe Kraft
tankte und Energie speicherte, desto bessere Chancen hatte er, eine
Partnerin zu finden. Er musste das Risiko eingehen.
Noth machte sich auf den Weg zum größten der nahe
gelegenen Seen, wobei er sich anhand der verschwommenen Erinnerungen
orientierte.
Der See war noch weitgehend zugefroren. Die graue Eisdecke war mit
losem, hartkörnigem Schnee bedeckt. Ein Paar entenartiger
Vögel, frühe Einwanderer, watschelten über den See und
pickten hoffnungsvoll auf der Oberfläche herum. Unter dem Grau
sah Noth das kühle Blau älteren Eises – eine Linse
tiefgekühlten Materials, das schon im letzten Sommer nicht
geschmolzen war und auch in diesem Jahr nicht schmelzen
würde.
Er kam an einem grau-weißen Bündel vorbei, das dicht an
der Wasserlinie lag. Es war ein Mesonychid. Wie der Polarfuchs
späterer Zeiten überwinterte er auf dem Boden. Jedoch hatte
dieser Meso im Winter bei einem Kälteeinbruch sich in einem
Schneesturm verirrt und war hier am Seeufer erfroren. Der Körper
war schnell gefroren und schien sich perfekt erhalten zu haben. Doch
wo er nun auftaute, machten die Bakterien und Insekten sich ans Werk:
Noth stieg ein süßlicher Verwesungsgeruch in die Nase. Das
halbgefrorene Fleisch würde ihm munden, und die salzigen Maden
wären ein Leckerbissen. Aber der Durst war stärker als der
Hunger.
Nahe dem flachen schlammigen Seeufer war das Eis dünn und
rissig, und Noth roch offenes Wasser. Das grünliche Wasser
wimmelte von Leben und war mit grauen Brocken der alten Eisdecke
bedeckt. Noth tunkte die Schnauze ins Wasser und trank. Dadurch
löste sich auch der größte Teil des zähen
Schleims zwischen den Zähnen.
Er sah, dass Zusammenballungen durchsichtiger grauer
Kügelchen im Wasser schwammen – der Laich der amphibischen
Seebewohner, den sie so früh wie möglich abgelegt hatten.
Und in der Nähe, in den Untiefen zu seinen Füßen,
machte Noth winzige zuckende Wesen aus: die ersten Kaulquappen. Er
fuhr mit der Hand durchs Wasser, schöpfte den Schleim ab und
stopfte sich die glibbrige Masse in den Mund.
Dann wurde die Darmtätigkeit aktiviert, und wässriger
Kot sammelte sich unter ihm.
Und dann brach das Eis mit einem lauten Knacken auf, und etwas kam
an die Wasseroberfläche. Etwas Großes kam aus dem See. Mit
großen Augen huschte Noth in die Deckung der nächsten
Bäume.
Wie Noth war auch das Krokodil früh erwacht und von der
Helligkeit des Tags aus dem Schlaf gerissen worden. Als es aus dem
See kam, rutschten ihm Eisbrocken vom
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