Ewig Dein
über, schaute ins WC, dann in die Küche, ins Wohnzimmer, ins Schlafzimmer – nichts. Sie öffnete den Kleiderschrank, warf einen Blick unters Bett und tastete die Matratze ab, studierte den Faltenwurf des Leintuchs, ehe sie den Mantel ablegte, sich unter der Decke verkroch und durchatmete. Hannes war eindeutig nicht da. Und Hannes war auch niemals da gewesen, das hätte sie gerochen, das hätte sie gespürt, da wäre sie dabei gewesen, wie betrunken auch immer. Jetzt konnte sie schlafen. Jetzt wollte sie von ihm träumen.
5.
Aus dem Hannes-Traum wurde zwar nichts, aber um drei Uhr nachmittags war Judith ausgeschlafen und hungrig und ließ sich vom Pizza-Service eine »Quattro Stagioni« bringen. Der Bote überreichte ihr zudem einen riesigen Blumenstrauß. »Ist leider nicht von mir, lag auf der Türmatte«, sagte er. Es waren fünfundzwanzig dunkelrote Rosen. Auf dem Papier klebte ein Brief. Judith öffnete ihn und las: »Für die wundervollste Frau, die ich jemals bis zur Haustür bringen durfte, ohne dass sie es gemerkt hat. In Liebe, Hannes.«
Jetzt war Judith sozusagen von den Socken, beschloss, die versäumte Nacht aufzuarbeiten, rief einen nach dem anderen an und holte sich folgende Meinungen und Ansichten über Hannes Bergtaler ein. Ilse: Fescher Mann. Wirkt sehr natürlich. Großer Kopf. Zahnpasta-Lachen. Liebling aller Schwiegermütter. Modisch eher konservativ. Bürstenfrisur passt ihm nicht optimal. Prinzipientreu. Ein bisschen schrullig, aber nicht verklemmt. Kann einer Frau tief in die Augen schauen. Kann gut zuhören. Mag Kinder. Hat sich lang und breit nach Mimi und Billi erkundigt. Hat ihnen sogar etwas mitgebracht. Ist ganz ein Lieber. Ist ein Riesenbärli. Und, das Wichtigste: »Wahnsinnig in dich verliebt.« Judith: »Ehrlich?« Ach, sie hörte es so gern. »Ja echt, er hat die ganze Zeit nur von dir geschwärmt.«
Roland: Ein echter Sympathieträger. Absolut vertrauenswürdig. Hat nichts Verschlagenes in seiner Art. Geht offen und herzlich auf alle zu. Sehr redegewandt. Große Überzeugungskraft. Hat viel Interessantes über Architektur erzählt. Und: »Er hat dich nicht aus den Augen gelassen.« Judith: »Echt nicht?« Roland: »Er ist vernarrt in dich.« Judith: »Vernarrt?« Roland: »Absolut.«
Valentin: Ein Gefühlsmensch. Eigentlich kein typischer Mann. Nicht so lässig. Kein Angeber. Eher weich. Judith: »Weich?« Valentin: »Nein, weich eigentlich auch nicht. Er weiß schon genau, was er will.« Judith: »Ja?« Valentin: »Er steht auf dich.« Judith: »Ja, ich weiß.« Valentin: »Und wie.«
Lara: »Er hat mich immer so angesehen.« Judith: »Wie?« Lara: »So lieb, so vertrauensvoll, wie ein großer Bruder, so als würden wir uns schon in- und auswendig kennen. Und zu Valentin hat er gesagt, dass er es schön findet, wenn zwei so fest zusammengehören und es auch zeigen. Und dass er so froh ist, dass er uns kennengelernt hat. Und ob du immer so viel trinkst. Und dass er uns auch alle einmal einladen möchte. Und dass du seine Traumfrau bist.« Judith: »Traumfrau?« Lara: »Ja, das hat er gesagt, wortwörtlich. Und wie küsst er?« Judith: »Bitte?« Lara: »Ist es schön, ihn zu küssen?« Judith: »Ah so, küssen. Ja, sicher. Sehr schön sogar.« Wahrscheinlich sehr schön.
6.
Der folgende Freitag einer Arbeitswoche, die aus acht Zwischendurch-Treffen mit Hannes bestanden hatte – drei Tassen Kaffee, zwei Schalen Tee, zwei Flöten Prosecco, ein Glas Campari-Orange, tausend Pokale Komplimente –, war mit 28 Grad der bisher wärmste Tag des Jahres. Judith hatte es mit großem mentalem Aufwand irgendwie achtzehn Uhr werden lassen. Sie duschte kalt und überlegte, zum ersten Mal seit Carlo, also seit knapp sechs Monaten, welche Unterwäsche sie anziehen sollte. Allerdings erwischte sie sich bei diesem Gedanken und hasste sich dafür. Nein, eigentlich hasste sie Carlo für die vielen verlorenen Nächte, sie selbst genierte sich für ihre gelegentlichen Rückfälle in die Unterwürfigkeit. Jedenfalls schieden alle für Carlos Augen gemachten Modelle wieder aus, und es wurde eine der weißen, nierenschonenden Wellness-Kombinationen, die Judith auch immer für Frauenarzt Doktor Blechmüller wählte.
Ihre kastanienbraunen Augen, wegen denen man sie oft mit einem Reh verwechselte, schminkte sie dezent wie immer. Ihre Lippen ernteten eine dünne Schicht rötlich schimmernden Lavendelhonigbalsams. Die naturblonden Haare – warum eigentlich »naturblond«, war die Natur blond?
Weitere Kostenlose Bücher