Ewig Dein
Inhalts, vermutlich Whiskey, in die Hand. Dazu sprach er getragen, als wollte er ein Muttertagsgedicht aufsagen: »Nochmals herzlichen Dank für die liebe Einladung.« Man mochte meinen, er war vor zwanzig Jahren das letzte Mal Gast gewesen und hatte sich auf den Wiedereinstieg in das gesellschaftliche Leben mindestens drei Wochen vorbereitet.
Jetzt erst drehte er sich demonstrativ zu Judith, holte sie aus ihrem Schattenversteck, umfasste sie mit beiden Händen. Sie spürte einen leichten Druck nach oben, der sie dazu veranlasste, aufzustehen. So stand er nun vor ihr, fast zwei Kopf größer, eine Armlänge von ihr entfernt, seine Hände auf ihren Schultern, und betrachtete sie mit einer Ergriffenheit, als wäre sie der weltweit erste Sonnenaufgang im Meer, der sich anfassen ließ. Und nach einer beinahe unerträglich langen Pause, in der ihr die Knie bedenklich weich wurden und der Alkohol im Kopf erste Schleudergänge einlegte, sagte er, für alle anderen gut vernehmbar: »Judith, ich freu mich so sehr, dich heute noch zu sehen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr!«
An dieser Stelle endeten nicht nur sämtliche ihrer Vorstellungen des Abends, sondern der gesamte Film. Ab da lief nur noch der Nachspann, bis in den frühen Morgen. Judith hatte noch ein paar lichte Momente, die sie dazu nutzte, ihr Weinglas zu den Lippen zu führen. Die Gesichter rund um sie verschwammen und verschwanden der Reihe nach. Einzig Hannes tauchte immer wieder von neuem auf. Einmal weit weg, dann wieder ganz nah bei ihr. Einmal roch sie seinen Atem, dann blitzte von der Ferne Omas Gebiss. Wo seine tiefe Stimme dröhnte, gab es Bewegung, Gemurmel und Gelächter.
Irgendwann wachte sie auf, weil sie plötzlich kein Geräusch mehr vernahm, und Hannes war die Wand, an der sie lehnte. Ob ihr übel war? Wie sollte sie das wissen? Sie war zu wenig bei sich, um es zu beurteilen. Irgendwann öffnete sich ein Seitenfenster und der Wind blies ihr angenehm kühl ins Gesicht. Und irgendwann hielt das Taxi, in dem sie untergebracht war, vor ihrem Haustor. Hannes stieg mit ihr aus, stützte sie. Es war angenehm, seine Stimme zu hören. Es roch nach Stiegenhaus. Im Aufzug drückte er das »D«, das ins Dachgeschoss führte. Sie gab ihm die Handtasche, der Schlüssel klimperte. Sie spürte seine Cordhosen-Beine an ihren, und ihre Wange streifte über seinen weichen Pullunder. Die Tür ließ sich problemlos aufsperren und öffnen, ehe sie hinter ihr ins Schloss fiel. Dann war es finster und still. Und das Bett kam auf halbem Wege auf sie zu.
4.
Der Sonntag begann gegen elf Uhr vormittags. Judith bemerkte, dass sie halbnackt war, torkelte aus dem Bett und suchte das schikanös brummende Handy. Der Menschenrechtsbrecher hieß Gerd. Er fragte: »Wie geht es dir?« Judith: »Keine Ahnung.« Er: »Bist du gut nach Hause gekommen?« Sie: »Wahrscheinlich.« Er: »Bist du nicht allein?« Sie: »Doch, ich glaube schon.« Er: »Soll ich später anrufen?« Sie: »Nein.« Sie meinte: weder jetzt noch später.
Er: »Was war das gestern mit dir?« Sie: »Was?« Er: »Du hast dich ordentlich zugeschüttet.« Sie: »Ich?« Er: »Jedenfalls warst du ziemlich betrunken.« Sie: »Das tut mir leid, war keine böse Absicht.« Er: »Bist du so sehr verliebt?« Sie: »Verliebt? Ich weiß nicht.« Er: »Soll ich dir verraten, was ich von Hannes halte, so auf den ersten Eindruck?« Sie: »Ja, von mir aus.« Er: »Willst du’s wirklich wissen?« Sie: »Nein, lieber nicht.«
Er: »Hannes ist suuu-per!« Sie: »Ehrlich?« Er: »Ja, wir sind alle schwer begeistert von ihm, und zwar in jeder Hinsicht. Er ist offen, freundlich, herzlich, aufmerksam. Er hat was zu sagen. Er ist witzig.« Sie: »Ehrlich?« Er: »Judith, Judith, da hast du einen Volltreffer gelandet.« Sie: »Echt?« Er: »Du hast ja nur die Hälfte mitbekommen, aber weißt du, wie lieb er zu dir war?« Sie: »Nein, aber so ist er immer.« Er: »Er vergöttert dich.« Sie: »Ja?« Er: »Ich sage dir, er ist das Beste, was dir passieren konnte.« Sie: »Glaubst du?« Er: »Wenn ich eine Frau wäre, dann wünschte ich mir genau so einen Mann zum Partner.« Sie: »Ja?« Er: »Hat er dich nach Hause begleitet?« An dieser Stelle entstand eine kurze Pause. Er: »Judith, bist du noch da?« Sie: »Gerd, ich glaube, ich lege mich jetzt besser wieder nieder.«
Sie fand die Taste mit dem winzigen roten Telefon, überließ das Handy sich selbst, trottete ins Badezimmer, warf sich den schwarzen Frotteemantel
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