Ewig Dein
Rätsel. Hier gebe ich dir, was dazugehört. Es ist besser für mich, wenn es bei dir ist. Ich werde mich jetzt endgültig zurückziehen. Großes Ehrenwort! Ja, du bist entlassen, Liebling! Dein Hannes.«
Bianca schüttelte die Schachtel. »Kleine Steinchen oder so etwas«, sagte sie. Auf dem Deckel stand: »Frage: Was haben diese und diese und diese Rosen gemeinsam? Antwort: Keine …« Bianca öffnete die Schachtel. »Dornen«, rief sie. »Dornen«, hauchte Judith.
»Schlimm, Frau Chefin?«, fragte Bianca. Judith begann heftig zu schluchzen. »Dornen« – da hatte sie zeitgleich das Bild seiner zerkratzten Unterarme vor Augen. »Ich kann heute Nacht bei Ihnen schlafen, wenn Sie wollen, Frau Chefin«, sagte das Lehrmädchen.
Phase sieben
1.
Drei Wochen waren vergangen. Fünfhundert Stunden. Achtzehn Mal zu Fuß ins Geschäft. Achtzehn Mal zurück nach Hause. Je gut zwei Dutzend Mal Haustor aufsperren, Wohnungstür öffnen, Wohnung betreten, Tür zuriegeln, Terrasse absuchen, unters Bett schauen, den Kleiderschrank nicht vergessen.
Drei Wochen. Tausend doppelte Überwindungen für Judith. Tausend Mal über zwei Schatten springen, über ihren eigenen und über seinen unsichtbaren. Gut zwei Dutzend Mal Jalousien herunterlassen, sich ausziehen, die Duschkabine betreten, die Duschkabine verlassen, noch einmal unters Bett schauen, die Decke hochheben, den Kopfpolster abtasten. Hinlegen. Augen schließen. Augen aufreißen. Die Kaffeemaschine! Aufspringen. In die Küche hetzen. Die Kaffeemaschine. War sie auf dem gleichen Platz? Hatte sie nicht weiter links gestanden?
Drei Wochen. Achtundzwanzig Überstunden für Aufpasserin Bianca. Eine stornierte Amsterdam-Reise. Eine abgesagte Tauffeier. (Veronika, Nichte, vier Kilo zwanzig, gesund. Hedi wohlauf, Ali glücklich. Wenigstens Ali.) Ein Besuch in der Polizeiwachstube: »Hat er Sie geschlagen? Nein? Hat er Sie bedroht? Auch nicht. Verfolgt er Sie? Ja? Stalking, sehr gut. Da haben wir strenge Gesetze. Was können Sie für Angaben machen? Was haben Sie gegen ihn in der Hand? Dornen. Aha. Ein Brief, sehr gut. Wo ist er? Weggeworfen. Das ist schlecht. Sehr schlecht. Den nächsten Brief heben Sie bitte auf und bringen ihn mit.«
Drei Wochen. Kein Anruf. Kein SMS. Kein E-Mail. Kein Schreiben. Keine Botschaft. Keine Rose. Keine Dornen. Bianca: »Der hat aufgegeben. Wetten?« Judith: »Aber irgendwo muss er sein.« Bianca: »Na sicher ist er irgendwo. Aber Hauptsache, er ist nicht mehr da, Chefin. Oder?«
2.
Am ersten Freitag im September, an dem sich der Sommer schwül verabschiedete, streckte ihr gegen drei Uhr nachmittags eine blasse, lichtscheue Frau, die ihr irgendwie bekannt vorkam, im Verkaufsraum die Hand entgegen. »Wolff, Gudrun Wolff«, sagte sie, »verzeihen Sie die Störung, aber vielleicht können Sie uns weiterhelfen, wir machen uns Sorgen, Frau Ferstl und ich, und da dachten wir …« – »Kennen wir uns?«, wollte Judith fragen. Doch ihre Befürchtung, die sich gleich darauf bewahrheitete, war so schlimm, dass ihr die Stimme versagte. Die Frau war damals in der Phoenix-Bar gesessen und hatte ihr zugewunken. Sie war eine seiner beiden Kolleginnen.
»Wir machen uns Sorgen um unseren Herrn Bergtaler. Er ist seit Wochen nicht im Büro erschienen. Und gemeldet hat er sich auch nicht. Und heute …« – Judith: »Nein, da kann ich Ihnen unmöglich weiterhelfen, das müssen Sie verstehen.«
Sie versuchte, die Frau zum Ausgang zu dirigieren. Aber schon hatte diese aus einer eckigen, harten, cremefarbenen Handtasche einen zerknüllten Zettel hervorgekramt. »Und heute haben wir diesen Brief von ihm erhalten«, sagte sie. Sie fuchtelte damit in der Luft herum, als wolle sie böse Geister verscheuchen.
»Es tut mir leid, Abschied von euch nehmen zu müssen , schreibt er. Mich gibt es bald nur noch auf Papier …« Gudrun Wolff machte eine Pause, um Luft zu holen. Ihre Stimme klang jetzt theatralisch und vorwurfsvoll: » Mich gibt es bald nur noch auf Papier. Und im Herzen meiner Angebeteten, der Liebe meines Lebens , schreibt er. Sonst nichts. Jetzt machen wir uns natürlich Sorgen um ihn, Frau Ferstl und ich, und da dachten wir, weil Sie ja quasi die Einzige …«
»Tut mir leid, da kann ich Ihnen überhaupt nicht weiterhelfen. Ich habe den Kontakt zu Herrn Bergtaler schon vor vielen Wochen abgebrochen, gänzlich abgebrochen«, sagte Judith und zog mit den Fingerspitzen einen scharfen Strich durch die Luft. »Geht’s, Frau Chefin?« Bianca stand jetzt neben
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