Ewig Dein
Sinn der folgenden Tage – es ist für sie auf kaum steigerbar beängstigende Weise August geworden – bestand einzig darin, zu verstreichen. Sie war unentwegt damit beschäftigt, den Eindringling in ihrem Kopf auszuhungern. Dabei vergaß sie mitunter selbst aufs Essen. In den Nächten starrte sie, aus Angst vor Unterarm-Träumen, so lange auf die Lichter ihrer Rotterdamer Goldregenlampe, bis ihr die Augenlider herunterkippten.
Gerd kam mit seinen täglichen Versuchen, den Kontakt zu ihr herzustellen, genauso wenig an sie heran wie all die anderen Freunde, die langsam begannen, sich Sorgen um sie zu machen, langsam und viel zu spät. Sie befand sich in innerer Emigration und wartete mit Zittern und Bangen auf seine nächsten Attacken, in steter Bereitschaft und mit dem unbändigen Willen, sie zu Tode zu ignorieren.
An diesen Tagen sprach er ihr je einmal, meistens am Nachmittag, zum Glück nie in der Nacht, auf die Mobilbox. Innerhalb weniger Sekunden hatte sie die jeweilige Meldung ungehört gelöscht. Sollte sich an seiner rituellen Gepflogenheit in dieser geringen Dosis nichts ändern – täglich eine Mitteilung ihr verborgen bleibenden Inhalts auf der lächerlich mickrigen Sim-Card eines seelenlosen Handys –, dann würde sie bald wieder normal zu leben beginnen, redete sie sich ein. Dann würde sie wie neugeboren zu ihren Freunden und zur Familie zurückkehren und sagen: »Da bin ich wieder, war nur eine kleine Krise. Kein Wunder, die Hitze, der Stress, ihr wisst schon.« Und sie würden erwidern: »Fein, Judith, dass du wieder da bist. Und jetzt gönn dir einmal einen richtig schönen Urlaub. Du hast nichts mehr zu befürchten. Wir sind alle bei dir!«
Noch war es nicht so weit, noch tastete sie sich durch den engen, finsteren Tunnel, aber erste dünne Lichtstrahlen fielen schon ein, und in einem kurzen Anflug von Euphorie buchte sie ihren ersten Gewöhnungsspaziergang unter freiem Himmel, eine einwöchige Reise nach Amsterdam, Ende August. Dort konnte sie bei Freunden wohnen, die nichts von Hannes wussten – und höchstens erfahren würden, dass ihr da ein auf sie fixierter Spinner täglich irgendetwas Belangloses auf die Mobilbox sprach.
Am übernächsten Tag war sie allzu leichtsinnig und öffnete beim Erledigen der Geschäftspost ein absenderloses Briefkuvert. Im Schock, als sie erkannt hatte, dass der Brief von ihm war, beging sie ihren zweiten schweren Fehler: Sie las das Schreiben, Zeile für Zeile, bis zum Schlusswort.
Der Text war im Protokollstil verfasst und klang zunächst irreführend sachlich: »Zwölfter August, sieben Uhr, ihr Radiowecker schaltet sich ein. Auf seiner Uhr ist es erst sechs vor sieben. Ihre Uhr geht vor, seine Zeit ist die richtige. Sie duscht sich, herrlich, wie das kühle Wasser über ihren zarten, weichen Körper rinnt. Sie denkt fest an ihn. Er an sie, immer.
Sieben Uhr dreiundvierzig. Sie verlässt das Haus. Lindgrünes, enganliegendes Sommerkleid. Goldgelbes zerzaustes Haar. Sie sieht aus wie zwanzig. Die schönste Frau der Welt. Aber ihr Gesicht ist viel zu ernst und traurig. (Du bist ein telesubjektiver Schwarzmaler, Teleobjektiv!) Er fehlt ihr. Sie vermisst ihn.
Sieben Uhr siebenundfünfzig. Sie sperrt das Lampengeschäft auf, ihre smaragdgrüne Umhängetasche fällt ihr von der schmalen Schulter. Sie ist schusselig, hektisch, nervös. Sie ist nicht bei der Sache. Sie denkt an ihn. Er an sie, immer.
Zwölf Uhr vierzehn. Sie verlässt das Geschäft. Sie schaut nach links, sie schaut nach rechts. Sie sucht ihn. Er ist so nahe. Sie könnte ihn greifen. Er liebt sie über alles in der Welt. Sie ihn auch, bestimmt. Bestimmt. Bestimmt. Bestimmt.
Zwölf Uhr zwanzig. Sie betritt die Sparkasse. Geld abheben? Er würde ihr seines geben. Er braucht kein Geld, nur ihre Liebe.
Zwölf Uhr siebenundzwanzig: Sie verlässt die Sparkasse. Er wirft ihr Kussmünder zu. Sie riecht seine Nähe, sie spürt seinen Atem, sie sucht ihn. Sie ist verwirrt.
Zwölf Uhr fünfunddreißig: Sie verschwindet wieder im Geschäft. Er winkt ihr zu. Sie kann ihn nicht sehen, aber sie weiß, dass er bei ihr ist. Er beschützt sie. Er hält alles Böse von ihr fern.
Siebzehn Uhr zehn: Sie verlässt das Geschäft. Das Ausharren hat sich gelohnt. Ausharren lohnt immer. Geduld und Treue sind die Essenz des Daseins, der Dünger der Liebe. Interessant, sie wählt diesmal einen anderen Weg. Goldschlagstraße. Tannengasse. Hütteldorfer Straße. Sie dreht sich nach ihm um. Er spürt ihren Luftzug.
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