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Ewig Dein

Ewig Dein

Titel: Ewig Dein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Glattauer
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Schätzungen, beim Alkohol hatte Judith sicherheitshalber nur die Hälfte der wahrscheinlichen Menge angegeben – machte Reimann einen dicken Strich und rekapitulierte: »Wenn man die Wechselwirkungen addiert und die Wirkzeiten berücksichtigt, gelangt man zu folgendem, grafisch dargestellten Ergebnis.« – Dann malte sie einen smarten Totenkopf aufs Blatt, aus dem hübsche Rauchwolken stiegen. »Bei so einem Cocktail ist ein kleiner Irrlauf im Park noch das Friedfertigste, wozu der Mensch imstande ist«, meinte Reimann. »Da sehen Sie, was für ein friedlicher Mensch ich bin«, erwiderte Judith.
    Anschließend musste sie die zweite Garnitur Bruchstücke ihrer Erinnerungen abliefern. Sie erzählte vom euphorischen Beginn des Abends mit ihren Freunden, ihrem plötzlichen Stimmungsabfall, der ruhigen Phase auf der Couch und ihren Angstzuständen im Bett. »Hervorgerufen durch?«, fragte Reimann. »Durch Stimmen und Geräusche, die so echt waren, dass …« Reimann: »Was für Geräusche?« – »Das Klirren eines Lusters, wenn die Kristalle einander berühren. Es war mein Lieblingsluster im Geschäft, und so einen Klang gibt es nur einmal.« – »Hm, spannend, einen klingenden Luster hat vor Ihnen noch kein Patient gehört«, sagte Reimann. »Und welche Stimmen waren es?« – Judith: »Äh, eher wieder so ein … Stimmenwirrwarr.« Sie schaffte es einfach nicht, von ihrem Hannes-Tick zu erzählen, so etwas Hirnrissiges konnte sie dieser hochintelligenten Person nicht zumuten.
    »Ein Stimmenwirrwarr, aha«, sagte Reimann unbeeindruckt. »Und dann?« – »Dann hab ich Panik bekommen und Ihre Pillen geschluckt.« – »Verzeihung, es sind nicht MEINE Pillen. Ich bin nur leider auf sie angewiesen, ich komme ohne sie nicht aus. Das verbindet mich übrigens mit den meisten meiner Patienten. Und was haben die Tabletten bei Ihnen gemacht?« – »Sie haben gewirkt.« – »Das kann man behaupten. Und wie genau?« – »Ich war völlig benebelt und habe Geister gesehen. Die Familienfotos an der Wand haben plötzlich zu leben begonnen. Da war mein Bruder Ali, als wäre er echt. Ich habe mich an eine Situation aus der Kindheit erinnert. Es war wie ein Traum von früher, aber sehr real.« – »Wo fand dieser Traum statt?« – »In meinem Kopf.« – »Unter anderem. Aber leider auch auf offener Straße, wo Sie zahlreiche Passanten daran Anteil haben nehmen lassen.« – »Das weiß ich nicht mehr, hinter der Haustür setzt mein Gedächtnis aus.« – »Wo setzt es wieder ein?« – »Im Spital.« – »Das ist spät!« – »Gerade noch früh genug, finde ich.« – »Auch wieder wahr. Es macht echt Spaß mit Ihnen!«, schloss Reimann. »Mit Ihnen ebenfalls«, erwiderte Judith. Beide meinten es übrigens ernst.
    Dann stand die Ärztin auf, nahm Judith an den Schultern, holte tief Luft wie eine Turnerin vor der Übung auf dem Stufenbarren und setzte zur abschließenden Grundsatzerklärung an: »Sie sind eine untypische Patientin, weil Sie in der Situation, in der Sie sich befinden, selbstironisch sein können, das passt nicht zum Krankheitsbild. Und Sie sind eine eigenwillige Patientin, Sie lassen sich nicht gerne helfen. Sie haben einen komplizierten Knoten im Kopf, aber da darf offenbar niemand anderer ran. Ich möchte Ihnen wenigstens einen simplen Gebrauchshinweis zum Öffnen mit auf den Weg geben: Suchen Sie den Anfang! Gehen Sie dorthin zurück, wo Ihr Problem begonnen hat. Meine hochgeschätzten Kolleginnen und Kollegen von der Psychotherapie werden Ihnen gerne behilflich sein. Ohne Beistand lasse ich Sie nämlich nicht mehr ins Freie.« Judith fiel kein besseres Wort als keines ein, also nickte sie.
    »Und bitteschön«, rief ihr Reimann am Gang nach, »nehmen Sie nach der Entlassung Ihre Tabletten, nicht meine, sondern IHRE, und zwar täglich und genau in der Dosierung, auf die Sie eingestellt werden. Sonst folgt bald Teil drei Ihrer ferngesteuerten Abenteuerexpeditionen.«
     
3.
    Seit er mit Mama ihr Anstaltsbett gehütet hatte, fürchtete sie sich nicht mehr vor ihm – sondern vor sich selbst, was auch nicht viel angenehmer war. Hannes diente lediglich als Projektionsfläche ihrer kranken Gedanken, und war er einmal endgültig verschwunden, lauerte wohl schon ein würdiger Nachfolger ums Eck. Der »Wurm« in ihrem Kopf war offensichtlich zu einem faustdicken Knoten verwachsen, der sich von Nacht zu Nacht fester zuzog. Wie sollte sie jemals zum Ursprung ihres Übels zurückfinden, zum Anfang des Fadens, der sich

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