Ewig Dein
dreizehn
1.
In den folgenden Wochen war nicht an Arbeit zu denken. Es war auch sonst an kaum etwas zu denken. Judith musste nur morgens, mittags und abends ihre Psychopharmaka nehmen, das war sie ihren Freunden im Betreuerstatus, der Mama, der Schulmedizin und wohl auch ein bisschen sich selbst schuldig. Von den weißen Pillen schluckte sie meistens eine mehr als vorgesehen, erstens weil sie wirklich extrem klein waren, und zweitens fühlten sich ihre schlaffen Gehirnzellen danach so an, als würden sie bei vierzig Grad Außentemperatur in einem Gebirgsbach baden.
Zu den zahlreichen sinnvollen Untätigkeiten daheim zählten von nun an auch je drei Wochenstunden mit Arthur Schweighofer, einem überaus sympathischen, relativ gutaussehenden, lässig gekleideten und überdies ledigen Psychotherapeuten, den Gerd für sie organisiert hatte. Seine Geduld, mit ihr über alles zu reden, nur nicht über sie und ihre allfälligen Probleme, von denen ohnehin keiner Genaueres wusste, war beeindruckend. Sollte sich ihr Knoten im Hirn doch noch irgendwann lockern oder gar lösen, was freilich eher unwahrscheinlich war, so wollte sie mit Arthur vielleicht eine kleine Weltumsegelung machen, er war nämlich ein echter Abenteurer, wenn man ihm so zuhörte. Und das machte sie vergleichsweise noch am liebsten und oft stundenlang ausschließlich: zuhören.
Damit sie es zu Hause aushielt, musste spätestens bei Einbruch der Dunkelheit jemand anwesend sein. Am Anfang wechselten sich die Freunde ab, für Lara zum Beispiel war der Dienstag gut, denn das war der Bowling-Abend von Valentin, und sie konnte nach Mitternacht im Bett ohnehin kein schnapsversetztes Bier mehr riechen, also schlief sie bei Judith und wachte, natürlich ohne es zu wissen, über deren Stimmen.
An den Wochenenden war durchgehend mit Mama zu rechnen. Da stieg Judiths Konsum an weißen Tabletten automatisch an. Mama bemühte sich zwar, ihre Anwesenheit wie Betriebsurlaub bei der geliebten Tochter wirken zu lassen, aber aus der Krümmung ihres Mundes und den furchigen Ausrufezeichen über ihrer Stirn ließ sich stets das Eingeständnis herauslesen, dass sie mit ihrer Erziehung gescheitert war, dass sie statt des verdienten Ruhestandes jetzt ein ödes Lampengeschäft und ein verrücktes erwachsenes Kind zu betreuen hatte.
Nur für wenige Augenblicke am Tag gelang es Judith, ihr Gehirn in Betrieb zu nehmen und sich mit ihrer Situation zu beschäftigen. Da klammerte sie sich an den Appell von Jessica Reimann, sie müsse zum Grund allen Übels vorstoßen, müsse den Anfang der Schnur finden, um den Knoten öffnen zu können. Schnell verfing sie sich da aber im Netz von Kindheitserinnerungen und Pubertätserscheinungen, brach ihre Suche wegen Überhitzung ihrer Gehirnzellen sofort wieder ab – und nahm ein Bad im Gebirgsbach.
2.
In ihrer Beziehung zu ihm hatte sich der oftmals angekündigte Sprung endgültig vollzogen. Hannes war nun eindeutig auf ihrer Seite. Ein paar Mal hatte er via SMS schüchtern bei ihr angeklopft und seine Hilfe angeboten. – Und, nein, Judith hatte nichts dagegen, dass er sie jetzt regelmäßig besuchte, nicht nur, weil sie prinzipiell nichts mehr gegen irgendetwas hatte, auch nicht nur deshalb, weil er am liebsten am Wochenende kam, wenn Mama da war, die er perfekt zu neutralisieren wusste, sondern weil ihr, Judith, seine Anwesenheit auf alternativmedizinische Art und Weise richtig guttat.
Viel verstand sie ja nicht von Homöopathie, aber ging es dabei nicht darum, Gesundheit mit kleinen Dosen jener Wirkstoffe zu erzielen, die einen krank gemacht hatten? Und Hannes war nun einmal exakt mit der gleichen Stimme ausgestattet wie jene surreale Erscheinung, die Judith nächtens wiederholt in den Wahnsinn getrieben hatte. Wenn sie ihn nun real für Mama in der Küche über Raumplanung, Statik, Baumaterialien und Kaffeemaschinen-Design referieren hörte, so waren Judiths Geister vertrieben und die Dinge wieder so halbwegs im rechten Lot. Außerdem verfügte der echte Hannes über einen anspruchsvolleren Wortschatz als sein gespenstisches Duplikat, welches ihr ja stets nur drei oder vier Phrasen ins Hirn gedroschen hatte.
Im Umgang mit ihr, der Patientin, war er von allen Freunden und Besuchern der mit Abstand gewandteste und lockerste. Er war immerzu gutgelaunt, konnte sich mühelos auf ihr kompliziertes Gemüt, den sprunghaften Wechsel von Hoch- und Tief-, von Lethargie- und Wach-Phasen einstellen. Nie schwang bei ihm der leiseste Ton eines
Weitere Kostenlose Bücher