Ewig Dein
Er schirmte Mama ab, die bereits Klagemauer-Position eingenommen hatte und nur darauf wartete, dass Judith endlich ansprechbar war.
»Hallo, was machst DU da?«, hauchte Judith stimmlos und bemühte sich um einen mit Lächeln verschwägerten Gesichtsausdruck. »Ich habe dich gefunden«, sagte er mit unangebrachten Anflügen von Stolz und Faszination. »Hannes hat dich vom Boden aufgeklaubt und ins Spital gebracht.« – Das war Mutters erdigere Version. Judith: »Aber wieso …« – »Reines Glück«, unterbrach er sie, dringend bedürftig, die Sache sofort aufzuklären: Er habe Sonntagvormittag mit Gerd telefoniert. Der hätte sich Sorgen gemacht, weil er sie nicht habe erreichen können, wo ihr doch am Vorabend, nach dem »schönen gemütlichen Essen, schade dass ich nicht dabei sein konnte«, plötzlich ziemlich übel geworden wäre. Er, Hannes, habe gerade Erledigungen in ihrer Wohnumgebung gehabt, da habe er Gerd vorgeschlagen, dass er es an ihrer Gegensprechanlage probieren würde, weil sie vielleicht bloß ihr Handy nicht hörte. In der Märzstraße, auf Höhe Reithoferpark, sei er dann auf eine kleine Menschenansammlung gestoßen. Und auf dem Gehsteig sei eine Frau gekauert, die so ausgesehen habe, als könnte sie Hilfe und Beistand gebrauchen. – »Und das warst du«, sagte er mehr entzückt als entsetzt. »So habe ich dich gefunden.«
Mutter: »Kind, was machst du …« Judith: »Mama, bitte, ich bin wirklich nicht in der Stimmung …« Mutter: »Du rennst da halbnackt auf der Straße herum, du hättest dir den Tod holen …« – »Judith, wir werden gleich wieder gehen und dich zur Ruhe kommen lassen«, beschwichtigte Hannes sie und legte ihrer Mutter die Hand auf die Schulter. »Wir wollten nur, dass du nicht alleine bist, wenn du aufwachst, weil du wissen sollst, dass immer wer für dich da ist, wenn es dir nicht gutgeht.« Ohne Mama anzuschauen, kannte Judith ihren Blick. Schon deshalb hätte sie Hannes niemals lieben können. »Das ist nett«, sagte sie. Da war er bereits aufgestanden, hatte Mama am Arm gepackt, und winkte mit der linken Hand, wie nur er es tat: Es sah nie nach Verabschiedung aus, immer nach »herzlich willkommen zurück«.
Obwohl sie sich wie eine betäubte Stubenfliege fühlte, die vom weißen Neonlicht auf das Laken gedrückt wurde, wollte sie gleich danach mit der mühseligen Arbeit beginnen, die Geschehnisse der letzten Stunden, oder waren es Tage oder Wochen, zu rekonstruieren und zu ordnen. Da kam ihr eine zierliche Krankenschwester mit einer kleinen runden Brille dazwischen, prüfte die Messzahlen ein paar innerer Werte und zog dann eine Spritze auf, deren Inhalt Judith gleichgültig war – und wohl das Zeug dazu hatte, sie noch gleichgültiger zu machen. »Woher kommen Sie?«, hauchte die Patientin. »Philippinen«, sagte die Zarte. »Schade, dass wir nicht dort sein können«, flüsterte Judith. »Ach, ist viel zu heiß!«, erwiderte die Schwester, »hier besser!«
2.
»Und ich hätte schwören können, dass ich Sie nie wiedersehe«, sagte Jessica Reimann, statt ihr die Hand zu reichen. »Ja, ich weiß, es tut mir leid, ist irgendwie blöd gelaufen«, erwiderte Judith. Es war ihr erstes Gespräch seit vier Tagen, und schon der Einstieg machte sie müde und mürb. Ihre Freunde hatte sie allesamt abgewiesen, so sehr genierte sie sich für ihren katastrophalen Absturz, so unerträglich war die Vorstellung, mit ihnen eine neue Spielrunde »Bald-sind-wir-wieder-ganz-normal« austragen zu müssen, nachdem sie soeben beim Betrug erwischt und brutal zum Start zurückgeworfen worden war.
»Wissen Sie wenigstens, warum Sie hier sind?«, fragte Reimann angenehm streng, wie man mit einem mündigen Menschen sprach, der dumme Sachen angestellt hatte. Judith: »Nicht genau, ehrlich gesagt.« Reimann: »Aber ich.« Sie nahm ein Stück Papier und einen Bleistift zur Hand. »Es ist eine einfache Milchmädchenrechnung.« Judith: »Oh je, im Rechnen war ich immer schlecht.« Reimann: »Keine Angst, Sie sagen nur an, ich ziehe die Bilanz.«
Die Psychiaterin wollte wissen, in welchem Zeitraum sie an jenem Samstag ungefähr welche Menge Alkohol in Form welcher Getränke zu sich genommen hatte, was und wie viel sie wann gegessen hatte, ferner, wann sie aufgehört hatte, welche der drei Tabletten zu schlucken, wann und mit welcher Dosis sie wieder eingestiegen war und welche und wie viele kopfschmerzstillende Pillen sie daruntergemischt hatte. Unter die Liste – es waren nur grobe
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