Ewig Dein
Schräglage. Es war bei ihrer ersten Begegnung auf der Psychiatrie gewesen: Reimann war vor dem Computer gesessen und hatte Befunde studiert. Judith hatte den Zettel in die Hand genommen, war über die persönlichen Angaben geflogen und bei fremden Namen hängen geblieben. »Wer sind die anderen?«, hatte sie gefragt. »Ähnliche Krankengeschichten, aus unserem Archiv«, hatte die Ärztin erwidert. Ganz oben, nein, sie irrte sich nicht, bestimmt nicht, ganz oben – »Isabella Permason«. Sie und diese Frau auf der gleichen Liste. Verbindungsmann Hannes. Gemeinsame Stimme, gemeinsamer Kristallluster. Dasselbe Klirren. Das gleiche Licht, und wie es schwächer und schwächer wurde. Nur noch matte Geräusche. Der Nebel fiel ein. Die Mauer legte sich eng um sie und raubte ihr die Sicht. Nur noch einmal schlafen. Einmal tief schlafen, und dann.
2.
Der zweiundzwanzigste Dezember fiel auf einen Sonntag. Gegen zehn Uhr vormittags kam Bastis SMS-Mitteilung aus dem parkenden Fahrzeug in der Nisslgasse: Hannes und die Frau, die sich als seine Schwiegermutter ausgab, hatten das Wohnhaus knapp hintereinander verlassen. Keine fünf Minuten später holte Bianca, die auf Abruf bereitgestanden war, Judith zum geplanten Winterspaziergang ab. Weitere fünfzehn Minuten vergingen, bis Basti den entsprechenden Schlosszylinder im vierten Stock mit dem Sperrwerkzeug abgetastet und die Tür geöffnet hatte. Nun übernahmen er und Bianca den Sicherungsdienst, und Judith konnte die Wohnung Nummer 21 betreten.
»Hallo?«, sprach sie sich selbst gleich beim Eingang Mut zu und steuerte, vorbei an der Fotogalerie und an sauber dekorierten, mit Blumentapeten versehenen, von Biedermeiermöbeln umstellten Räumen, in denen noch die Herbstluft hing, direkt auf die angelehnte weiße Türe zu, die sie zweimal flüchtig mit ihren Fingerknöcheln berührte, ehe sie sich von alleine öffnete.
Der Aufschrei ließ sich gerade noch unterdrücken. Sie hatte mit beinahe allem gerechnet, was sie hier zu Tode erschrecken würde, aber nicht mit einer zur Unerschrockenheit erstarrten und doch lebendigen Marmor- oder Porzellanfigur, die im Licht einer vom Plafond baumelnden mächtigen Weltkugel aufrecht in einem französischen Jugendstilbett saß und nichts anderes tat, als sich mit ihrem trüben Blick an Judiths weit aufgerissenen Augen festzuklammern.
»Hallo«, sagte sie, gedämpft, um ihre eigene Stimme zu hören und sich vom ersten Schock zu erholen. »Entschuldigung, dass ich hier einfach so …« – Ihr Gegenüber mit der durchsichtigen Haut und dem glattgekämmten schulterlangen graublonden Haar senkte die Augenlider, als würde sie sich vom Wachkoma in den Schlaf fallen lassen, hob sie aber gleich wieder an, um zu beweisen, dass sie bei Bewusstsein war.
»Ich … äh … heiße Judith, und Sie sind wahrscheinlich Isabella … Darf ich Bella sagen? – Also ich sage einfach Bella.« Judith sprach leise, beinahe im Flüsterton, um jede Erschütterung zu vermeiden. »Ich will Sie wirklich nicht … belästigen, aber wir beide, wir haben einen gemeinsamen …« Vielleicht täuschte sie sich, aber die Puppenfrau schien ihre Mundwinkel anzuheben. »Wir haben einen gemeinsamen … Ich kenne ihn gut. Hannes, nicht wahr? Hannes Bergtaler.« Sie machte jetzt zwischen allen paar Wörtern Sprechpausen, versuchte sich dem Kriechtempo anzupassen, in dem in diesem Ruheraum die Zeit verging.
»Er und ich, Hannes und ich, wir sind uns damals, also ich bin ihm über den Weg gelaufen, ich bin ihm praktisch in die Arme gelaufen. Es war zu Ostern in einem Kaufhaus. Und dann … Ich hatte wirklich keine Ahnung, dass er … Er hat mir nie davon erzählt. Kein Wort von Ihnen. Bella? Können Sie mich hören? Verstehen Sie, was ich sage?« Die blasse Frau starrte sie regungslos an. Der Sekundenzeiger einer braunen Wanduhr imitierte den Klang verlangsamter Herzschläge. »Ich … äh … Bella, ich hoffe, meine Frage ist nicht zu indiskret, aber für mich ist es sehr wichtig, Sie müssen wissen, ich gebe noch nicht auf, ich kämpfe dagegen an, und deshalb meine Frage: Sind Sie wirklich … wirklich die Frau … ich meine, die Ehefrau von … ihm?« Jetzt bewegte sich etwas an ihrem Mund, so als nehme sie Schmerzen hin, um zu zeigen, dass sie lächeln konnte.
»Darf ich mich zu Ihnen ans Bett setzen?« Ach, egal, sie tat es einfach und griff nach der schlaffen Hand der Patientin. Eine Weile schauten sie sich schweigend an und ließen die Wanduhr ihre Arbeit machen, bis
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