Ewig sollst du schlafen
gut wie gar nicht. Nikkis Stimme setzte immer wieder aus, und das Pfeifen des Windes und das Prasseln des Regens übertönten beinahe die wenigen Worte, die zu ihr durchdrangen. »Simone … treffen uns … bei …«
»Wo? Du kommst doch heute Abend zum Boxen, oder?« Simone wich einer Pfütze aus, eine Speiche ihres Schirms verfing sich in der Hecke, die den Parkplatz umgab. Der Regen tropfte eisig auf ihren Kopf. »Verdammt.« Nikki war unzuverlässig, schlicht und ergreifend. Doch sie war Simones beste Freundin, und das nicht nur, weil Nikki Andrews Schwester war und außerdem das einzige Mitglied der Familie Gillette, das noch mit ihr sprach. »Sag jetzt nicht, dass du dich vor dem Training drückst.«
»Nein!« Nikkis Stimme klang merkwürdig. Gestresst. Anscheinend flüsterte sie. »Wir treffen … Galleria … Parkplatz, dritte Etage … es … wichtig … Andrew.«
»Was? Was ist mit Andrew?«, fragte Simone, und Regen und Wind waren augenblicklich vergessen. »Nikki.« O nein, die Verbindung war unterbrochen. Doch dann hörte sie etwas über das Rauschen ringsum hinweg. »Wir kön… Drink … Cassan …«
»Vor dem Kurs einen Drink bei Cassandra’s?«, vergewisserte sich Simone. Der Regen rann ihr in den Kragen. »Ich komme. Gegen sieben. Ins Restaurant, nicht auf den verdammten Parkplatz. Hier treibt sich ein Mörder herum, hast du das vergessen?« Es gelang ihr, die Wagentür aufzuschließen. »Wenn du vor mir bei Cassandra’s eintriffst, bestell mir einen Wodka Martini. Mit zwei Oliven.« Ihr Schirm stülpte sich um. »Scheiße. Nikki? Bist du noch da?«
Sie hatte keinen Empfang mehr. Sie warf das Handy ins Auto, machte den Schirm zu und legte ihn tropfnass auf den Rücksitz neben ihre durchweichte Sporttasche. Typisch Nikki, dieses Theater, dachte Simone und schlüpfte hinters Steuer. Sie prüfte ihr Aussehen im Rückspiegel und stellte zufrieden fest, dass kaum Schaden entstanden war. Noch etwas Lipgloss für den perfekten Schimmer, dann zupfte sie an ihren feuchten, inzwischen windzerzausten Haaren, sodass sie noch unfrisierter und lässiger und wahrscheinlich umso besser aussahen. Sie hatte den Eindruck, dass Jake sportliche, starke Frauen mochte, keine Modepüppchen. Selbstbewusste Frauen fand er anziehend, so viel stand fest. »Schwul, dass ich nicht lache«, sagte sie, startete den BMW und rollte über den Parkplatz. Regen prasselte auf den Wagen, der Sturm fegte durch die Straßen. Aus den Augenwinkeln erfasste Simone plötzlich eine Bewegung.
Eine Gänsehaut überzog ihre Arme. Sie bremste instinktiv. Sekundenlang hatte sie das Gefühl, von jemandem bewacht zu werden. Von jemandem, der sich ihren Blicken entzog. Unmittelbar fiel ihr der Typ wieder ein, der sie bei ihrem letzten Treffen mit Nikki in dem Restaurant beobachtet hatte. Aber das lag schon Tage zurück. Sie biss sich auf die Unterlippe und spähte angestrengt in die Ecke, in der sie die Bewegung bemerkt hatte. Ein schmutziger Hund mit hängendem Kopf und Schwanz lief über die Straße und verschwand zwischen zwei hohen Gebäuden. Simones Puls beruhigte sich, und sie schalt sich eine dumme Gans. Trotzdem beäugte sie aufmerksam sämtliche umliegenden Gassen und Gebäude. Weder durch die regennassen Scheiben des BMW noch im Rückspiegel sah sie etwas – kein Monster, keine dunkle Gestalt, keinen riesigen schwarzen Mann, der sich auf sie stürzen wollte. Im Grunde war alles wie immer. Nur wenige Autos waren auf der Straße unterwegs sowie ein paar Skater auf dem Bürgersteig, die mit dem Sturm um die Wette dahinglitten. Um Gottes willen, nur wegen Nikkis unablässigem Gerede über diesen Grabräuber war sie so nervös. Alles war in bester Ordnung. Trotzdem lagen ihre Hände feucht auf dem Steuerrad. Sie gab wieder Gas. Zunächst fuhr sie zur Bank und danach zur Reinigung. Bevor sie sich mit Nikki traf, schaffte sie es sogar noch, in der Apotheke ein Rezept einzulösen und ein paar Lebensmittel einzukaufen. Dann rief sie Nikki auf ihrem Handy an. Natürlich meldete die sich nicht. Simone probierte es noch mal bei ihr zu Hause und hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Glücklicherweise ließ der Sturm bald nach, und auf ihn folgte immer dichter werdender Nebel. Die Straßen glänzten nass im Licht der Straßenlaternen, Laub und Unrat verstopften die Gullys. Die Stoßzeit war vorüber, es herrschte kaum Verkehr, und nur wenige Fußgänger bevölkerten die Bürgersteige. Hier und dort blinkte
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