Ewig sollst du schlafen
Weihnachtsbeleuchtung fröhlich durch den Dunst und erinnerte an das bevorstehende Fest. Simone fuhr an einer Kirche vorbei, vor der unter den Ästen eines Nadelbaums eine Krippenszene aufgebaut war. Sie verspürte wieder quälende Sehnsucht nach Andrew, diesen Schmerz, der nicht geringer wurde, obwohl inzwischen schon so viele Weihnachtsfeste vergangen waren. »Lass es hinter dir«, sagte sie leise zu sich selbst und kam zu dem Schluss, dass sie wirklich umziehen sollte. In Charlotte hatte sie einen Job in Aussicht, sie sollte sich einfach ins kalte Wasser stürzen und der Stadt den Rücken kehren. Sämtliche Verbindungen hierher abbrechen und den bösen Erinnerungen ein für alle Mal entfliehen.
Simone bog in die Parkhauszufahrt der Galleria ein und fand problemlos einen Parkplatz auf der ersten Etage. Warum auf der dritten? Warum sollte sie mehr laufen als nötig? Das Parkhaus war nahezu menschenleer, und nur wenige Fahrzeuge waren dort abgestellt. Zwar war das nicht ungewöhnlich – Nikki und sie parkten hier regelmäßig –, aber sie war dennoch ein wenig nervös. Simone vergewisserte sich, dass niemand beim Treppenhaus oder beim Aufzug lauerte, griff nach ihrer Tasche, schloss den Wagen ab und strebte im Laufschritt dem Erdgeschoss zu. Kein Mörder sprang sie aus dem Schatten an. Niemand hielt sich beim Ausgang versteckt. Simone legte den Weg zum Restaurant ohne jeden Zwischenfall zurück.
Dort wartete niemand auf sie. Kein Wunder. Nikki kam grundsätzlich zu spät. Oder gar nicht. Was heute aber bestimmt nicht der Fall sein würde. Simone ließ sich in einer Nische in Eingangsnähe nieder und bestellte bei einer fröhlichen Kellnerin mit starkem Akzent und Zahnspange zwei Getränke – einen Martini für sich und einen Lemon Drop für Nikki. Das Mädchen war wahrscheinlich kaum siebzehn, bestimmt noch nicht alt genug, um alkoholische Getränke auszuschenken, doch sie kam binnen weniger Minuten mit zwei beschlagenen Stielgläsern zurück.
Im Cassandra’s herrschte nicht unbedingt Hochbetrieb. Nur wenige Gäste saßen an den Tischen und in den Nischen in dem schwarzweiß gefliesten kleinen Gastraum mit den ebenfalls schwarzweißen Tischplatten. Simone studierte die Speisekarte, schlürfte ihren Martini und lauschte den Weihnachtsliedern aus der Musikbox. Elvis’ Version von
Blue Christmas
schien der Renner zu sein. Die Minuten verstrichen, und keine Nikki Gillette stürmte außer Atem in das Restaurant. Simone verspeiste die Oliven aus ihrem Martini und leerte ihr Glas. Dann bückte sie auf ihre Armbanduhr. Seit zwanzig Minuten saß sie nun schon hier. Wunderbar. Nikki war wieder mal zu spät dran. »Komm schon, Nikki«, sagte Simone leise. Die überschwängliche Kellnerin kam vorbei und Heß ihr Schulmädchenlächeln aufblitzen. »Kann ich Ihnen sonst noch etwas bringen?«
»Eine neue beste Freundin.«
»Was? Ach so.« Das eingefrorene Lächeln bröckelte ab. »Also … möchten Sie noch etwas trinken oder … vielleicht eine Kleinigkeit essen?«
Simone zögerte und kam dann zu dem Schluss, dass nichts dagegen sprach. »Gern.« Sie tippte mit dem Fingernagel an den Rand ihres leeren Martiniglases. »Noch einen.«
»Und …?« Das Mädchen warf einen Blick auf Nikkis unberührtes Glas. Der Zuckerrand war noch makellos, die klare Flüssigkeit lag unbewegt in einem Ring aus Zitronenschale. »Lassen Sie es einfach stehen. Vieleicht kommt sie noch.
Dieses Problem habe ich ständig mit ihr.« Simone sah erneut auf die Uhr und seufzte. Nikki hatte bereits eine halbe Stunde Verspätung. Das verhieß nichts Gutes. Simone ahnte schon, welche Entschuldigungen sie vorbringen würde. Sie stellte sich vor, wie Nikki unpünktlich in den Kickbox-Kurs hereinschneite. Atemlos würde sie erklären, dass sie einen Artikel hatte überarbeiten müssen, mit dem sie nicht ganz zufrieden gewesen war, dass sie einen Abgabetermin hatte einhalten oder unverzüglich hochwichtige Recherchen hatte anstellen müssen.
Eine Viertelstunde später hatte Simone ihren zweiten Martini ausgetrunken. Der Lemon Drop schwitzte immer noch auf dem gegenüberliegenden Platz. »Na prima«, murrte sie und erwog, Nikkis Glas selbst zu leeren, entschied sich dann jedoch dagegen. Immerhin musste sie noch zur Sporthalle laufen und ihr Training absolvieren. Noch ein Drink, und sie wäre zu nichts mehr fähig, außer dazu, bereits beim Anheben des Fußes auf den Hintern zu fallen. Sie winkte nach der Kellnerin, bedachte sie mit einem
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