Ewig sollst du schlafen
roten Ampel schob sie die Kassette in den Rekorder. Sekundenlang war nur das Summen des laufenden Bandes zu hören, dann gedämpftes Kratzen und Schaben. Ein lautes Rumpeln, erneut das Zischen des Bandes, schließlich die Stimme einer Frau.
»Uuuuh.« Ein lang gezogener, herzzerreißender Klageton. Nikkis Nackenhaare sträubten sich.
Es folgte ein mehrere Sekunden langes Schweigen … dann ein schmerzerfülltes Stöhnen. Nikkis Kehle war wie ausgedörrt. Ein Kratzen und lauteres Stöhnen.
»Gott im Himmel«, flüsterte Nikki. Ihr Herz pochte wild. »Nein.« Ihre Gedanken rasten, ihre Finger umklammerten das Lenkrad, als hinge ihr Leben davon ab. Das konnte nicht sein. Ausgeschlossen!
Wieder Ächzen und heftiges Scharren und dann … o nein … dann hörte sie Simones Stimme so deutlich, als säße ihre Freundin neben ihr auf dem Beifahrersitz. »Lass mich raus!«, flehte Simone.
Ein Entsetzensschrei entschlüpfte Nikki. Sie schlug die Hand vor den Mund. Nein, nein, nein! Augen und Kehle brannten. Nicht Simone! NICHT SIMONE!
»Hilfe, o Gott, helft mir doch!« Simones Schrei übertönte fast das verzweifelte Hämmern und Kratzen. »Bitte nicht«, flüsterte Nikki und stellte sich die furchtbare Angst ihrer Freundin vor, das Grauen angesichts der Gewissheit, unter der Erde in einem verschlossenen Sarg zu liegen.
Ein lauter, dumpfer Schlag. Ein Knacken und ein Aufschrei.
Nikki fuhr zusammen. Sie registrierte gerade noch, dass die Ampel vor ihr auf Rot sprang. Ihr Fuß verfehlte die Bremse.
Der Wagen machte einen Satz nach vorn, dann trat sie auf die Bremse. Doch sie hörte nicht den Lärm des Straßenverkehrs und auch nicht das Hupen um sie herum. Alles, was sie vernahm, waren die Schreie ihrer Freundin. Vor ihrem inneren Auge sah sie Simone vor sich. Nackt. Frierend. Wahnsinnig vor Angst.
Das Hämmern hatte aufgehört. Wimmern. Weinen. Nikki fröstelte und begann zu weinen, Tränen strömten aus ihren Augen.
Noch einmal ertönte eine Hupe. Erschrocken bemerkte Nikki, dass die Ampel umgesprungen war. Sie trat aufs Gas, raste mit kreischenden Reifen über die Kreuzung und nahm den Lastwagenfahrer kaum wahr, der beide Hände hob, als wollte er fragen, was denn in sie gefahren sei. Sie war vollkommen auf die schauderhaften Geräusche konzentriert, das Scharren und Winseln und die Rufe voller Panik, die aus den Lautsprechern drangen. Nur mit Mühe gelang es ihr, den Wagen in die nächste Nebenstraße zu steuern.
Bebend schaltete sie in den Leerlauf.
Während der Motor des Subaru leise orgelte, rannen Tränen in Bächen über ihre Wangen. Das abscheuliche Kratzen, Klopfen und Heulen ergoss sich noch immer aus den Lautsprechern.
»Hilfe … bitte … Andrew? Nikki? Irgendjemand … Ich tu alles … Wo bin ich?« Nikki begann, unkontrolliert zu zittern. Simone weinte, flüsterte zusammenhangloses Zeug. Nikki spürte ihre Verzweiflung. Ihre Furcht. Ihr unaussprechliches Grauen.
»O nein …«, wisperte Nikki in den leeren Wagen hinein. »Nein! Nein!« In ohnmächtiger Wut hieb sie mit der Faust auf das Lenkrad.
Auf dem Band folgte eine Pause, dann erklang erneut Simones Stimme. Schwächer jetzt, ersterbend. Keuchend. »Ich kann nichts sehen … bitte, lass mich raus«, bettelte sie, und Nikki kniff die Augen zu, als könnte sie so die grauenhafte Vorstellung von Simone, die irgendwo in einem Sarg lag, verbannen. »… O Gott, hilf mir …«
»Wenn ich doch könnte«, sagte Nikki und wusste genau, dass es zu spät war.
Ein qualvoller Schrei schrillte durch das Wageninnere, voller Entsetzen, markerschütternd. Nikki war sicher, dass sie ihn ihr Leben lang nicht vergessen würde. Während die letzten erbarmungswürdigen Geräusche erklangen, stieß sie die Tür auf und erbrach sich auf das Pflaster. Sie richtete sich in ihrem Sitz auf, wischte sich mit dem Ärmel über den Mund und schloss die Augen. Trotzdem sah sie immer wieder die schreckliche Szene vor sich, ihre Freundin in dieser albtraumhaften Situation.
»Bitte, lieber Gott … lass mich nicht so einsam sterben …«
Ein Schrei, erfüllt von Todesangst, gellte durch den Wagen, und Nikki schluchzte laut auf.
»Nein … bitte nicht! Simone …«
Sie lauschte, doch es folgte nichts mehr.
Nur das stereotype Sirren des leeren Bandes.
27. Kapitel
E in Vorfall auf dem Pelder Gemetery«, erklärte Morrisette, als Reed aus dem Cadillac stieg. Sie stand auf dem Parkplatz vorm Polizeirevier an der offenen Tür eines wartenden Streifenwagens und
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