Ewig sollst du schlafen
entfernt, um mir meinen Freiraum zu sichern. Ich muss mich den Tatsachen stellen, Nikki, hier stecke ich in einer Sackgasse. Schon seit Andrews Tod. Ich brauche einen Tapetenwechsel.« Da hatte sie Recht. Simone war nicht nur das einzige Kind einer alteingesessenen wohlhabenden Familie, sie war auch die Nutznießerin von Andrews Grundbesitz. Andrew hatte von seiner Großmutter ein Stück Land geerbt und zudem über ein dickes Bankkonto verfügt. Für Nikkis Eltern war es immer ein wunder Punkt gewesen, dass Simone anstelle von ihnen einen Teil des Familienbesitzes geerbt hatte, doch Nikki hatte es nie gestört.
»Ich dachte, du würdest mich verstehen«, sagte Simone. »Du bist doch immer auf der Suche nach etwas Aufregendem. Aber du kriegst deinen Kick durch deine Arbeit.«
»O ja, heiße Storys darüber zu schreiben, was die Historische Gesellschaft als nächstes Projekt plant oder wer in den Schulausschuss gewählt wird, das törnt mich echt an.«
»Du hast immerhin zur Überführung von Dickie Ray Biscaine beigetragen.«
»Und dadurch ist die Welt ein bisschen besser geworden«, spottete Nikki in Gedanken an den Mistkerl, einen Cousin der Montgomerys. Ein asozialer Gauner.
»Ja, wirklich«, beteuerte Simone. Ein Aushilfskellner griff nach dem auf dem Nebentisch hinterlegten Trinkgeld, dann sammelte er das Geschirr ein und wischte die Wachstuchdecke mit einem feuchten Lappen ab. »Dickie Ray hat Hundekämpfe organisiert.« Sie schauderte. »Furchtbar! Du hast der Welt einen Gefallen getan. Und jetzt bist du dem Grabräuber auf der Spur, nicht wahr? Ich habe heute Morgen den Artikel gelesen.« Simones Augen blitzten auf. »Dir brennt etwas unter den Nägeln«, stellte sie mit einem Lächeln fest und beugte sich über den Tisch, als wollte sie Nikki ein Geheimnis verraten. »Ich bin keine findige Reporterin, aber so, wie du ständig auf die Uhr und auf dein Handy guckst, vermute ich, dass du noch mehr in petto hast, dass du dringend irgendwohin musst, stimmt’s?«
»Ist das so offensichtlich?«
»Ja. Ich möchte wetten, es hat mit den Morden zu tun.« Nikki versuchte auszuweichen. »Ich kann nicht viel dazu sagen, aber zum ersten Mal seit langer, langer Zeit habe ich die Chance, Tom Fink zu beweisen, was ich kann, und diese Chance will ich nicht vertun.«
»Oh …« Simone nickte und biss in einen Schrimp. »So ist das also. – Der Prozess gegen Chevalier liegt lange zurück.«
»Mir kommt’s vor, als wäre es gestern gewesen.«
»Es sind wohl eher zehn oder zwölf Jahre. Ich war dabei, weißt du noch?« Sie schauderte, und Nikki bemerkte eine Gänsehaut auf ihren eigenen Unterarmen. »Ich habe gehört, dass Chevalier freikommt oder schon seit ein paar Wochen draußen ist. Kannst du dir das vorstellen? Der Psychopath metzelt seine Freundin und den Großteil ihrer Familie nieder, wandert dafür in den Knast und wird dann wegen eines Formfehlers entlassen?« Simone war plötzlich sehr ernst und völlig blass im Gesicht. »Wenn so etwas möglich ist, liegt in diesem System einiges im Argen.«
Nikki konnte ihr nur beipflichten. Sie wollte nicht an LeRoy Chevalier und sein brutales Verbrechen denken, schon gar nicht daran, wie sie seine Verurteilung beinahe verhindert hätte, indem sie Informationen verwendete, die sie von ihrem Vater aufgeschnappt hatte. Der war als Richter an dem Prozess beteiligt gewesen. Das Ganze hätte ihren Vater fast die Stellung gekostet und hatte wahrscheinlich seine politischen Ambitionen zunichte gemacht, die er seinerzeit noch hegte. Und jetzt war Chevalier ein freier Mann. Sie stimmte mit Simone überein: Das war nicht richtig. Sie blickte auf die Uhr und entschuldigte sich bei Simone. »Tut mir Leid, aber jetzt muss ich wirklich los.«
»Ich weiß, da draußen wartet die ganz große Story und bettelt geradezu darum, dass Nikki Gillette sie schreibt.« Nikki lächelte und klappte ihr Portemonnaie auf. Sie seufzte. In der Eile hatte sie es versäumt, zur Bank zu gehen. Sie hatte kein Geld dabei. »Du wirst es nicht glauben …« Simone lachte. »Keine Sorge, der Tee geht auf meine Rechnung. Außerdem kannst du mich immer noch freihalten, wenn du erst den Pulitzerpreis für investigativen Journalismus bekommen hast.« Simone hob die Hand, in der Absicht, die Kellnerin heranzuwinken, hielt dann aber inne. Ihr Lächeln erlosch. »Wer ist der Typ?«
»Welcher Typ?«
»Der Kerl in der Nische da drüben.« Sie wies mit dem Kinn auf die betreffende Nische nahe einer Seitentür,
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