Ewig
begreifen, worum es hier geht«, antwortete der Fremde fest. »Wohin verschwinden Ihr Wissen, Ihre körperliche Kraft, wenn Sie eines Tages nicht mehr sind, Professor Sina? Hinfällig sind wir Menschen wie die Blätter der Rosen im Wind, das wissen Sie.«
Der Wissenschaftler nickte und seine Augen wanderten ziellos über den Stammbaum.
»Warum haben Sie keine Kinder, Professor Sina?« Die Frage kam überraschend. »Ich werde es Ihnen sagen. Weil Kinder keine Garantie für Ihren Fortbestand sind. Sie entwickeln sich ganz anders, als man selbst oder schlimmer noch, Söhne und Töchter können sterben.
Und das, Professor Sina, ist der wahre Grund, warum Sie keine Kinder haben«, fuhr der Unbekannte unerbittlich fort. »Weil Sie Angst davor hatten, Idioten zu zeugen. Weil Sie sich davor gefürchtet haben, die Wochenenden mit Ihren Söhnen anstatt im Museum auf einem Fußballplatz zu verbringen! Ist es nicht so?«
»Ja. So ist es«, gab der Wissenschaftler zu. »Und jetzt ist es zu spät. Warum tun Sie mir das an?«, fragte er dann erschüttert.
»Weil Sie jetzt verstehen, Professor Sina«, sprach der Unbekannte ganz ruhig und jeder Sadismus war aus seiner Stimme verschwunden. »Lassen Sie den Stammbaum zu sich sprechen. Hören Sie ihm zu«, flüsterte er fast sanft.
Paul nahm zwei Stufen auf einmal die Treppe hinunter in die Eingangshalle mit den acht Riesen und stürzte zur Kasse. Die Frau dahinter schaute ihn tadelnd an.
»Wo ist Ihr Kontrollbereich für die Sicherheitskameras? Schnell!«, rief Wagner ihr zu.
»Wieso? Was suchen Sie dort?«
»Herrje, ich werde Ihnen schon keinen Monitor stehlen, ich will nur kurz ein paar Worte mit dem zuständigen Sicherheitsmann wechseln. Also – wo?«
Sie schaute ihn weiterhin unsicher an. Wagner griff über die schmale Theke und nahm ihre Hand in seine. »Bitte, es ist wichtig.« Diesmal hatte er Erfolg.
Sie zeigte in den hinteren Teil des Raumes, auf eine Tür, die er fast nicht gesehen hätte. »Klopfen Sie dort!«
Paul war schon weg und rannte durch den Saal.
Sina starrte auf das mittelalterliche Tafelbild. Er sah die bunten Fahnen und Schilder, die grausamen Schlachten mit den überlegenen Nachbarn, um aus der Grenzmark eine Nation zu schmieden, die Väter und ihre Söhne. War nicht jeder Sohn der Sinn des Lebens des Vaters? War er nicht der Träger aller Hoffnung? Jeder sinnlose Tod des Sohnes zerstörte auch das Lebenswerk seines Vaters. Waren es nicht die Kinder, durch die man ewig lebte? So viele Träger aller Hoffnungen, die jung und für nichts gestorben waren. Sein Blick fiel auf Leopold, »das Kind«, der sich den Hals gebrochen hatte, nachdem er gelangweilt seinen Lehrern entwischt und auf einen Baum geklettert war. Ein Schaudern durchfuhr den Wissenschaftler. Was, wenn sein Sohn …
»Ich sehe, Sie hören ihn«, meldete sich der unheimliche Anrufer zurück in Georgs Bewusstsein. »Wer ist die zentrale Figur auf dem Bild?«
»Auch wenn seine Medaille etwas nach rechts versetzt ist, ist es eindeutig der heilige Leopold«, antwortete Sina.
»So ist es, Professor. Wen hält er an der Hand?«, hakte der Unbekannte nach.
»Zwei seiner Söhne, die er überlebt hat«, sagte Sina und trat näher an den Altar heran, um die drei Figuren besser betrachten zu können. Überlebensgroß im blauen Waffenrock mit den goldenen Adlern darauf und einer Krone auf dem Haupt sah er einen alten, wehmütig blickenden Mann, der zwei kleinere führte, die hilfesuchend zu ihm aufblickten.
»Nun, sie waren nicht die einzigen, die der Markgraf begraben musste. Schauen Sie genau hin, Sina. Leopold ist der einzige Babenberger mit Heiligenschein, nicht wahr? Nun, Professor, wofür steht der Nimbus, der Strahlenkranz um den Kopf?«, meinte die Stimme prüfend.
»Der Nimbus steht seit den Tagen der alten Götter für Unsterblichkeit. Rund krönte er Gestorbene, eckig die Lebenden, die Gottkönige und römischen Kaiser«, rekapitulierte der Wissenschaftler.
»Exakt und ohne Umschweife zum Kern der Sache, ich habe von Ihnen nichts anderes erwartet, Professor«, entgegnete der Fremde zufrieden. »Wie viele seiner zahlreichen Söhne mit seiner zweiten Frau Agnes haben ihn beerbt? Wie viele erkennen Sie auf der Tafel, Sina?«
»Wenn wir den weltberühmten Chronisten und Kleriker Otto von Freising weglassen, dann bleiben zwei Brüder: Heinrich Jasomirgott und Leopold IV.«, meinte Sina und ließ seine Augen suchend über das Bild wandern.
»Wer war der ältere von beiden?«, tönte es
Weitere Kostenlose Bücher