Ewige Versuchung - 5
dankte ihm nochmals und machte sich auf den Weg. Vom Strand aus war es ein kleiner Aufstieg, aber ein gut ausgetretener Pfad wies ihr die Richtung, und sie folgte ihm. Trotz der zunehmenden Wolken reichte der Mondschein, um sie hinreichend sehen zu lassen. Sie hoffte nur, dass sie die Schule erreichte, bevor Regen einsetzte. Zum Glück war die Insel klein, mithin dürfte der Weg nicht allzu weit sein.
Was zum Teufel tat sie hier? Warum hatte Rupert sie losgeschickt und nicht einen Trupp seiner Männer? Zwar kannte sie die Gründe, die er ihr genannt hatte, und sie war beschämt gewesen, weil sie Temple entkommen ließ, weshalb sie ihm auch unbedingt nachjagen wollte, aber jetzt …
Jetzt, da sie sich an einem fremden Ort befand, ganz auf sich allein gestellt, kamen ihr ernste Zweifel an Ruperts Plan. Zudem hegte sie den Verdacht, dass Rupert nicht ganz ehrlich zu ihr gewesen war. Welcher Mann ließ sein Mündel allein einen Vampir quer durch Europa verfolgen? Machte er sich denn gar keine Sorgen um ihre Sicherheit?
Nein, das tat er nicht. Und das wiederum verriet ihr, dass er entweder ein übertriebenes Vertrauen in ihre Fähigkeiten setzte oder ihm schlicht gleich war, was mit ihr geschah. Beides fand sie schwer zu glauben.
Vielleicht diente sie aber auch bloß als Ablenkung, während er seine »echten« Pläne zur Ergreifung Temples schmiedete.
Wie auch immer: Temple konnte ihr womöglich einen Hinweis liefern, wozu Rupert ihn überhaupt wollte. Eventuell gelang es ihr, ihm einige nützliche Informationen zu entlocken, wenn sie ihm das Wenige verriet, was sie über Ruperts Pläne wusste. Dann hätte diese Reise sich wenigstens ein bisschen gelohnt.
Da sie nichts zu tun hatte, sang sie vor sich hin, während sie ging – nicht so laut, dass sie die Leute in den paar Häusern aufschreckte, an denen sie vorbeikam, sondern gerade so, dass sie sich beschäftigte und ihre Gedanken verdrängte. Andernfalls würde sie gleich wieder anfangen, an Temple zu denken, und das nicht auf sinnvolle Weise.
Ein Hund bellte, als sie eine kleine Farm passierte, und sie beruhigte ihn mit leisen Worten. Als er tatsächlich verstummte, lächelte sie. Kaum jedoch unterbrach sie ihren Gesang, dachte sie erneut an Temple, und diesmal fehlte ihr die Energie, sich zur Räson zu rufen.
Gott, sie hoffte, dass sie bald die Schule erreichte, ins Bett gehen und diese unnütze Grübelei einstellen konnte! Das war ihr großer Fehler: Sobald sie zu viel Zeit hatte, schweiften ihre Gedanken in alle möglichen Richtungen ab, kreisten um Dinge, mit denen sie sich lieber nicht befassen sollten.
Der Weg zur Schule führte hügelaufwärts, und auf halber Strecke wurde Vivian etwas kurzatmig. Immerhin sah sie keine Viertelmeile entfernt die Umrisse des Gebäudes aufragen. Sie dankte Gott, dass sie nur leichtes Gepäck hatte, sonst wäre sie versucht gewesen, sich unter den nächsten Baum zu legen. Wenngleich sie stark war, waren lange Fußmärsche ungewohnt für sie. Außerdem war sie müde und hungrig. Allein dass sie sich Entschuldigungen für sich ausdachte, war schon ein sicheres Indiz, dass sie Essen und Ruhe brauchte. Ganz zu schweigen von ihrem fortwährenden Nachgrübeln über Temple. Die Aussicht auf ihre nächste Begegnung indessen munterte sie auf – und das nicht bloß, weil sie ihn als würdigen Gegner sah.
Oben auf dem Hügel blieb sie kurz stehen, um sich auszuruhen. Ein Stück weiter, hinter einem großen Tor, lockte die Garden Academy sie wie ein neuer Freund. Die Schule war in einem Herrenhaus untergebracht, drei- oder vierhundert Jahre alt, stattlich und einladend, zumal in mehreren Fenstern Licht brannte.
Das Tor war nicht verschlossen und quietschte in den Angeln, als Vivian es aufschob. Hier oben wirkte die Nacht ein wenig stiller, so dass ihr plötzlich auffiel, welchen Lärm ihre Stiefel auf dem Kies und ihr Atem in der Dunkelheit machten. Eine Stimme in ihrem Kopf ermahnte sie, vorsichtig zu sein, obwohl sie sah, dass die Bewohner der Schule noch nicht schliefen, denn hinter den Fenstern bewegte sich hier und da noch jemand.
Als sie gerade die Hand an den Klingelzug hob, wurde sie von hinten gepackt. Eine warme rauhe Hand legte sich auf ihren Mund und erstickte ihren Schrei, während ein muskulöser Arm ihren Oberkörper umfasste und ihre Arme einklemmte. Nicht einmal die Beine blieben ihr zur Gegenwehr, denn sie wurden von zwei ungleich längeren, stärkeren zusammengedrückt. Eine feste Brust presste sich an ihren
Weitere Kostenlose Bücher