Ewige Versuchung - 5
trommelte auf die Holzplanken ein, krallte ihre Finger hinein. Dann trat sie mit ihrem Stiefel dagegen, um ein paar Holzsplitter zu lösen, auf dass sie mit ihrer Hand oder ihrem Fuß Halt fand. Die Splitter bohrten sich in ihre Hände, stachen ihr unter die Fingernägel, bis ihre Hände blutig und wund waren. Ihre Zehen pochten im Stiefelleder, wund vom fortwährenden Treten gegen die Bretter.
Sie schaffte es, die halbe Strecke hinaufzuklettern, ehe ihre Füße abrutschten und sie sich mindestens ein Dutzend Splitter in die Handflächen trieb. Der Schmerz ließ sie aufschreien, und mit dem hervorschießenden Blut verlor sie jeden Halt. Sie fiel mit einem dumpfen Knall zu Boden, wo sie immerhin auf ihren Füßen landete. Der Schmerz des Aufpralls vibrierte ihr die Beine hinauf und setzte dem ohnehin gestauchten Knöchel noch mehr zu. Sie krümmte sich auf dem Boden, seitlich inmitten des ganzen Schmutzes liegend.
Dort verharrte sie einige Minuten und ließ ihren Tränen freien Lauf. Ärger, Wut und Schmerz summierten sich zu einer überwältigenden Verzweiflung, so dass sie fürchtete, jeden Moment wie eine Wahnsinnige loszuschreien.
Andererseits war Schreien vielleicht gar keine schlechte Idee. »Hallo!«, rief sie. »Ist da jemand?« Das setzte sie fort, bis ihr Mund vollkommen ausgetrocknet war.
Erschöpft richtete Vivian sich zum Sitzen auf und machte sich daran, die Splitter aus ihrer rechten Hand zu ziehen – zumindest die, die sie finden konnte. Sie durfte sich glücklich schätzen, wenn die Hand sich nicht entzündete, denn soweit sie es in dem spärlichen Licht erkennen konnte, sah sie übel aus, eingerissen und blutverschmiert.
Das Pochen in ihrem Knöchel strahlte bis ins Knie, ihre Hände brannten wie Feuer, und ihr Kopf fühlte sich an, als wäre ihr jemand mehrmals dagegengetreten. Zudem schmerzten ihre Rippen von dem letzten Sturz, aber nach wie vor tröstete sie sich damit, dass nichts gebrochen war. Überdies hielten die diversen Schmerzen sie davon ab, in dem engen Loch in Panik zu geraten.
Vivian zupfte Splitter aus ihrer Hand, bis ihre Finger zu verkrampft waren und sie in der Dunkelheit nichts mehr sah. Beinahe Abend. Fast Sonnenuntergang. Wie lange würde sie noch hier hocken? Sie war furchtbar erschöpft, dankte Gott aber dafür, dass die Nacht warm war, sie also keine böse Erkältung bekäme. Bald müsste sie allerdings ihre Blase leeren, und das war in dieser Enge widerlich. Also musste sie es so lange hinausschieben, wie sie konnte.
Als es schließlich ganz duster war und sie glaubte, es nicht viel länger auszuhalten, hörte sie ein Geräusch über sich.
»Hallo?«, rief sie und rappelte sich mühsam auf. Unterdessen betete sie stumm, dass dort oben nichts sein mochte, was auf der Suche nach einem Abendessen herumstreunte und sich entsprechend mit Freuden zu ihr hinunterstürzen würde. Sie verlagerte ihr Gewicht auf das gesunde Bein und stützte sich an der Wand ab.
»Vivian.«
Temples Stimme zu hören war eine veritable Wohltat. Vor Erleichterung wollte Vivian heulen. »Ich bin hier!« Eine recht idiotische Bemerkung, denn er konnte sie selbstverständlich klar und deutlich sehen.
Stille folgte, und eine Sekunde lang fürchtete sie, dass er wieder fort war.
»Geh beiseite!«
Das musste er ihr nicht zweimal sagen. Sie hinkte so weit an den Rand des Loches, wie es ging, und presste sich mit dem Rücken an die kühlen Holzplanken. Dann fühlte sie einen Luftzug auf ihrem Gesicht, hörte einen dumpfen Aufprall und erkannte schemenhaft, wie Temple sich vor ihr zu seiner vollen Größe aufrichtete.
»Gott sei Dank, du hast mich gefunden!«
»Damit hat Er nichts zu tun«, entgegnete er beängstigend schroff. »Leg deine Arme um meinen Nacken!«
Das tat Vivian gern. Sie klammerte sich mit aller Kraft an ihn, wohingegen er zu zögern schien, ehe er sie mit seinen wunderbaren Armen umfing.
»Festhalten!«, wies er sie an. »Beug die Knie!«
Sie befolgte seinen Befehl, und bevor sie begriff, was geschah, flog sie mit ihm aufwärts, aus der Grube hinaus in die Nacht.
Er trug sie durch die Luft, und während die Brise über sie hinwegwehte, vergaß Vivian tatsächlich für einen Moment alle Schmerzen. Dieses Gefühl der Freiheit war mit nichts zu vergleichen, was sie bisher erlebt hatte, und wäre sie nicht sprachlos vor Staunen gewesen, hätte sie vor lauter Begeisterung gelacht.
Temple landete auf den Vorderstufen der Schule. Mit Vivian auf seinen Armen durchquerte er die
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