Ewige Versuchung - 5
er stets zwei geladene Pistolen mit sich. Er hatte sich seit zwei Tagen nicht rasiert, und nicht genug damit, dass er sich in einer Welt bewegte, die Stoff für Schauerromane lieferte – er war der Vampire im Allgemeinen und im Besonderen auch noch gründlich überdrüssig.
War es also ein Wunder, dass er, als sie auf dem Weg nach Italien in einem sicheren Haus in Wien unterschlüpften, bei Tagesanbruch hinausging und sich ein wenig die Gegend ansah? Sein Leben war neuerdings entschieden zu nachtlastig, und Dunkelheit setzte naturzugewandten Menschen wie ihm eben sehr schnell zu.
Also hatte er sich anerboten, das Geschäft eines Freundes von Chapel aufzusuchen und sich nach Nachrichten zu erkundigen. Die Vampire konnten nicht dorthin, und Molyneux fühlte sich nicht wohl, was gut war, denn andernfalls hätte Marcus mit dem alten Mann um die Chance gekämpft, an die Sonne zu kommen. Alle hofften, dass Nachrichten von Temple eingetroffen wären. Marcus äußerte zwar nichts, doch hegte er den finsteren Verdacht, dass diejenigen, die den Vampir verschleppt hatten, ihn bereits losgeworden waren.
Die Tür zu der Buchhandlung klemmte ein wenig, als er sie öffnen wollte. Er stieß dagegen, worauf sie an die Türglocke knallte. So viel zu seinem Vorsatz, sich unauffällig zu verhalten.
»Grieß Gott, de’ Härr«,
begrüßte der Mann hinter dem Tresen ihn strahlend.
»Womit konn i’ höifen?«
»Guten Morgen«, antwortete Marcus auf Englisch, denn er wusste, dass der Buchhändler diese Sprache beherrschte. »Führen Sie zufällig etwas von Severian?« Das war der exakte Wortlaut der Frage, die Chapel ihn zu stellen angewiesen hatte. Severian war Chapels wahrer Name – oder vielmehr der Name, den er während der ersten ungefähr hundert Jahre seines Lebens benutzt hatte. Nachdem die Kirche seiner und der anderen habhaft geworden war, änderte sich alles – sogar ihre Namen.
Das Strahlen im Gesicht des Weißhaarigen wich einem Ausdruck von Ärger und Misstrauen. »Solche Ausgaben sind sehr rar, mein Herr.«
Auf diese Reaktion hatte Chapel ihn vorbereitet. »Fürwahr. Und ich interessiere mich nur für Erstauflagen.«
Der alte Mann nickte ernst. »Kommen Sie bitte mit mir. Ich habe, wonach Sie suchen.«
Marcus folgte ihm, eine Hand in Reichweite seiner Pistole. Chapel mochte dem alten Kauz trauen, aber Chapel war auch weniger leicht zu töten als Marcus.
Der Ladenbesitzer führte ihn nach hinten, durch eine schwere schmale Tür in ein kleines Büro. Dort schloss er die oberste Schreibtischschublade auf, aber statt hineinzugreifen, drehte er seine Hand um und griff etwas, das unter der Schreibtischplatte festgeklebt sein musste. Im Geiste schüttelte Marcus den Kopf. All diese Intrigen und Heimlichtuereien! Man sollte meinen, der alte Mann bewachte Staatsgeheimnisse, nicht die Briefe an einen Mann, der seit sechshundert Jahren totgeglaubt war.
Marcus streckte seine Hand nach dem einzelnen Brief für seinen Gefährten aus, doch der Alte überraschte ihn erneut, indem er den Umschlag zuerst in ein altes Buch steckte. Letzteres überreichte er Marcus.
»Ich hoffe, Sie genießen die Lektüre, mein Herr.
Hobe die Äre.
«
Marcus stand stumm da, gefangen zwischen Belustigung und Furcht. Was immer in dem Weißhaarigen vorgehen mochte, er nahm seine Stellung als Chapels Postempfänger überaus ernst. Der Orden würde nicht zögern, diesen Mann zu benutzen oder gar zu töten. Sollte er also den Spion oder etwas vergleichbar Gefährliches spielen wollen, würde Marcus sich deshalb nicht über ihn lustig machen.
»Danke sehr.« Er legte das Buch in die Ledermappe, die er am Riemen über der Schulter trug. »Ich hoffe, das werde ich.
Servus.
«
Als er das Geschäft verlassen hatte, überkam Marcus der alberne Drang, nach hinten zu sehen, ob jemand ihm folgte. Er gab dem jedoch nicht nach, sondern schaute geradeaus. Falls er verdächtig erscheinen wollte – worin selbstverständlich nicht sein Ehrgeiz bestand –, hätte er bloß genau das zu tun brauchen.
Bis die Vampire aus ihrem Schlummer erwachten, waren es noch Stunden. Momentan waren sie zweifellos in ihre Betten gekuschelt – er hoffte inständig, dass sie dort nur kuschelten – und flüsterten einander im Schlaf Liebesgedichte zu. Es war wahrlich ekelhaft, wie sehr sie einander umschwärmten.
Er erschauderte, rief sich jedoch gleich zur Räson. Für den Moment gehörte Wien ihm, und er wollte das Beste daraus machen, ehe er in ihre Unterkunft
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