EwigLeid
oder vielmehr ihre Wohnung in einem dreistöckigen Haus an der Divisidero Street betreten hatten, staunte Jase über die mädchenhafte Einrichtung. Er war es gewohnt, Carrie bei der Arbeit zu sehen, im Großraumbüro mit den strengen maskulinen Möbeln, immer in durchgeknöpftem Hemd und Kakihose. Ihm war klar, dass sie sich bewusst androgyn kleidete, betrachtete sie jedoch nie als etwas anderes als eine Frau. Ihr streng geschäftsmäßiges Äußeres weckte manchmal sogar die Lust in ihm, die darunter verborgenen weiblichen Reize aus der Verpackung zu schälen. Trotzdem, hätte er raten sollen, welchen Einrichtungsstil sie bevorzugte, hätte er nie im Leben auf diesen Shabby Chic getippt, auf den seine verträumten Schwestern so versessen waren.
Mehrere Aquarelle in zarten, verschwimmenden Blau- und Violett-Schattierungen zierten die gelben Wände. Ihr Sofa hatte einen verblichenen geblümten Bezug, der Esstisch mit geschwungenen Beinen bestand aus poliertem Kirschholz.
Zimt. Schon beim Eintreten empfing ihn dieser Duft.
In der Wohnung drehte sich Carrie nervös zu ihm um. „Mach’s dir bequem“, sagte sie, ohne ihn anzusehen. „Ich glaube, mein Kühlschrank ist ziemlich leer. Ich gehe rasch duschen und mich umziehen.“ Sie zeigte auf eine Tür. „Zum Gästebad geht’s da entlang.“
Jase nickte. Sie verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Jase hörte, wie sie den Schlüssel drehte, und wenige Minuten später rauschte das Wasser in der Dusche.
Einen Moment lang wollte ihn die Vorstellung ihres nackten Körpers überwältigen. Ihres nackten, nassen Körpers. Ihres nackten, nassen, schlüpfrigen Körpers. Nie im Leben war er von einer Frau dermaßen besessen gewesen. Was war es nur, was ihm so unter die Haut ging? Und was hatte ihn eigentlich dazu getrieben, ihr seine Hilfe bei der Aufklärung des Embalmer-Falls anzubieten? Er hatte die kommenden paar Tage frei. Wenn ihm schon nicht die Leitung der Ermittlungen in diesem Fall übertragen wurde, sollte er den Urlaub genießen. Die Familie besuchen. Mit seinem Cousin Basketball spielen. Kelly Sorenson anrufen und herausfinden, ob sie hielt, was ihre dunklen Augen versprochen hatten.
Stattdessen wollte er unbezahlte Überstunden einlegen und Carrie in einem Fall unterstützen, den er für sich wollte und dem sie seiner Meinung nach noch nicht ganz gewachsen war, während er sich gleichzeitig gegen seine Begehren wehren musste.
Was zum Teufel war mit ihm los?
Klar, er fand sie attraktiv, doch sie war nicht die schönste Frau, die er je gesehen oder gehabt hatte. Herrgott noch mal, sie war Polizistin. Eine, die oft genug behauptete, sie könnte ihn locker fertigmachen. Und er bezweifelte das nicht. Doch diese Drohung ernüchterte ihn nicht, im Gegenteil. Sie beschwor jedes Mal Vorstellungen von ihm und Carrie herauf, wie sie sich auf dem Boden wälzten, sich berührten und aneinander rieben, bis sie einander die Kleider vom Leib rissen.
Himmel, er dachte immer nur an das eine. Carrie war nicht nur Polizistin und ganz bestimmt kein Sexspielzeug für ihn, das er nach Gebrauch fallen lassen konnte. Sie war eine sehr komplexe Frau, über die er nicht allzu viel wusste. Jase schritt in ihrem kleinen Wohnzimmer auf und ab und suchte nach Hinweisen auf die Frau unter der Uniform.
Den Büchern im Regal nach zu urteilen, war sie eine passionierte Leserin, doch offenbar bevorzugte sie keine wahren Kriminalfälle. Sie las entweder Science-Fiction oder historische Liebesromane. Das wunderte ihn. Sie war so nüchtern undpragmatisch in ihrem Beruf. Ihre bevorzugte Lektüre und auch ihr Einrichtungsstil warfen die Frage auf, was Carrie wohl sonst noch vor der Welt verbarg.
Er entdeckte ein paar Fotoalben. Nahm eines aus dem Regal und blätterte es durch. Er lächelte über die Fotos von Carrie in verschiedenen Stadien des Heranwachsens. Sie schien nur aus Armen und Beinen zu bestehen, unbeholfen wie ein Fohlen. Obwohl sie jetzt höchstens einssiebzig groß war, überragte sie auf den Fotos ihre Klassenkameraden, die Jungen eingeschlossen. Er konnte sich vorstellen, dass sie gehänselt wurde, besonders wegen ihres flammend roten Haars, das damals eher ins Orangefarbene spielte. Dennoch wirkte die Carrie auf den Fotos glücklich. Selbstbewusst. Was für ein Mädchen im Highschoolalter verdammt ungewöhnlich war.
Irgendwann jedoch schien eine Veränderung mit ihr vorzugehen. Nach dem Highschoolabschluss wurde sie ernster. Mehrere Fotos zeigten sie mit einem
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