EwigLeid
ebenfalls ernsten Mann, manchmal in Polizeiuniform, manchmal in Zivil. Andere zeigten sie mit mehreren Männern, alle in Uniform, alle mit rotem Haar und blauen Augen. Von ihrer Mutter existierten nicht viele Fotos. Es sah aus, als wäre sie von der Bildfläche verschwunden, als Carrie noch klein war.
Jase schob das Album zurück ins Regal und griff nach einem anderen. Es war ein Sammelalbum mit ausgeschnittenen Zeitungsartikeln und kleinen Andenken. Auf der ersten Seite stand in schnörkeliger Schrift ihr vollständiger Name.
Jase zog die Brauen hoch. Dem Album war zu entnehmen, dass sie eine erstklassige Scharfschützin war. Mit siebzehn war sie bei den Olympischen Spielen angetreten. Sie war das jüngste Mitglied des Schützenteams der USA und hatte eine Silbermedaille geholt. Einige Jahre später hatte sie ihren Abschluss an der Polizeiakademie gemacht und war in die Army eingetreten. Und einige Jahre danach wurde sie der erste weibliche Scharfschütze im SWAT-Team in Austin.
Es war kein Witz, wenn sie sagte, sie könnte ihn fertigmachen. Jase hatte gewusst, dass sie ein Jahr lang im SWAT-Team von San Francisco gearbeitet hatte, bevor sie zur SIG stieß, aber warum hatte sie ihm nie verraten, dass sie Scharfschützin war? Und wenn sie so treffsicher war, erschien der Umstand, dass sie Porter verfehlt hatte, umso beunruhigender. Wieder einmal fragte er sich unwillkürlich, was an jenem Abend wirklich passiert war. War die Katastrophe zum Teil auch seine Schuld gewesen, weil er sie zuvor so sehr bedrängt hatte?
In ihrem Bericht über jene Nacht war Carrie nicht sehr ins Detail gegangen, und Jase konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie absichtlich vage geblieben war. Verbarg sie etwas? Etwas, dessen sie sich schämte? Ob sie es zugeben wollte oder nicht, die Konfrontation mit der alten Dame vor der Bar hatte ihr zugesetzt, und das kannte er von Carrie ganz und gar nicht. Polizisten stießen ständig auf Widerstand und mussten hässliche Konfrontationen bewältigen. Verdammt, er hatte gesehen, wie Carrie es mit Typen aufnahm, die doppelt so breit waren wie sie und Al Capone wie einen Chorknaben aussehen ließen. Und trotzdem flippte sie aus, weil eine alte Frau sie anspuckte und ihr vorwarf, ihren kleinen Jungen getötet zu haben?
Von wegen kleiner Junge. Kevin Porter hatte auf Carrie geschossen und dann versucht, sie totzuschlagen. Hätte sie ihn nicht erschossen, wäre sie jetzt vermutlich tot. Sie hatte getan, was getan werden musste. Warum nur hatte Jase das Gefühl, dass sie sich ihrer Tat schämte? Sich schämte, weil sie Porter erschossen hatte? Weil sie eine gute Polizistin war?
Jase hörte, dass die Dusche abgedreht wurde, und stellte das Album zurück. Ja, Carrie hatte guten Grund, stolz auf ihre Erfolge zu sein, doch Jase wusste instinktiv, dass jemand anderer das Sammelalbum zusammengestellt hatte. Jemand, der stolz auf sie war. Es bewies, dass sie jemandem etwas bedeutete und gelegentlich anderean sich heranließ. So war es zumindest irgendwann mal gewesen.
Jase fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs Haar und sah sich noch einmal um. Auf dem Esstisch lagen ein paar Akten und Papierstapel, und Carrie hatte die mitgebrachten Akten dazugelegt. Jase blätterte sie durch; seine Miene verfinsterte sich unwillkürlich, als er die Tatortfotos sah. Er hatte von den grausamsten Aspekten dieses Verbrechens gehört, doch es war stets etwas anderes, wenn man die Spezifikation vor Augen hatte. Der Embalmer war ein krankes Arschloch, vor allem auch deshalb, weil er so organisiert und methodisch vorging. Laut Mac, der mit der Polizei in Fresno gesprochen hatte, verfolgte alles, was der Embalmer tat, einen Zweck. Hatte eine spezielle Bedeutung. Doch niemand war dieser Bedeutung bisher auf die Spur gekommen.
Sobald Carrie wieder auftauchte, würde sie mit der Arbeit beginnen wollen, das war Jase klar. Also ging er noch mal ins Bad, das genauso romantisch eingerichtet war wie das Wohnzimmer, mit dem filigranen Duschvorhang, den roséfarbenen Handtüchern und kleinen blütenförmigen Seifestücken neben dem Waschbecken. Als er sich die Hände wusch, atmete er wieder den berauschenden Zimtduft ein. Er trocknete sich mit einem der roséfarbenen Handtücher die Hände. Carrie mochte diese Farbe offenbar, was ihm merkwürdig erschien. Sie trug nie Rosé. Immer nur neutrale Farben. Nichts Feminines.
Wieder schossen ihm Fragen durch den Kopf. Warum diese Scham, weil sie Porter erschossen hatte? Weil sie es
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