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EwigLeid

EwigLeid

Titel: EwigLeid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virna Depaul
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ihrer Waffe.
    Fledermäuse.
    In den Höhlungen dieser Dammstraße lebten Tausende und Abertausende von Fledermäusen. Jeden Sommer und Herbst kamen Schüler hierher, um in der Dämmerung das Ausfliegen der Tiere zu beobachten. Der Massenaufbruch verdunkelte den Himmel und erinnerte an wimmelnde Aale in seichtem Wasser.
    Carrie schluckte krampfhaft und blickte über die Schulter zurück. Bis zur Dämmerung dauerte es noch Stunden. Sie holte tief Luft und wappnete sich.
    Doch nichts hätte sie auf den Anblick der blutigen Überreste des Opfers vorbereiten können. Als sie den schmutzbefleckten Kopf schief auf dem Baumstumpf stehen sah, schoss ihr durch den Kopf, dass diese Frau einmal schön gewesen war. Mit langem braunem Haar, um das andere Frauen sie sicher beneidet hatten. Die Augen des Opfers starrten sie völlig ohne Lider aufdringlich an. Carrie wurde es eng in der Brust, als sie sogleich die Autopsiefotos der drei Opfer des Embalmers vor ihrem inneren Auge sah. Auch von den Fotos aus hatten sie sie angestarrt.
    Vorwurfsvoll.
    Flehentlich.
    Zwar hatte Carrie sie nicht retten können, doch sie konnte zur Aufklärung der Morde beitragen. Konnte den Mörder finden, ob es nun ein und derselbe war oder nicht. Den Familien – vielleicht sogar den Seelen der Opfer – einen Anflug von Frieden bringen.
    Als Carrie näher kam, sah sie Hunderte von Maden und anderen Insekten, die sich an den menschlichen Überresten gütlich taten – sie waren in den Ohren, dem Mund, den Wunden. Fliegen schwirrten um sie herum und landeten zeitweise, als wollten sie die niederen flügellosen Insekten von einer Stelle zur anderen weisen. Die Mitarbeiter von der Forensik würden Exemplare sammeln, die Insekten klassifizieren und sogar sezieren, um anhand der Funde den Todeszeitpunkt der Frau zu bestimmen.
    Eines allerdings wusste Carrie: Die Frau war an einem anderen Ort getötet und später hierher transportiert worden. Sonst wäre mehr Blut vorhanden. Und es gäbe Anzeichen eines Kampfs. Abgesehen von mehreren Fahrzeugspuren und einigen Fußabdrücken im Schlamm wies nichts auf kürzliche Aktivitäten von Menschen hin.
    Carrie atmete ein paar Mal flach, bevor sie sich wieder dem unnatürlichen Starren der Augen stellte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, es wäre respektlos, den Blick abzuwenden. Diese Frau hatte einen würdevollen Anblick verdient und sollte nicht auf die einzelnen Körperteile, die von ihr übrig waren, reduziert werden. Angesichts des Zustands der Leiche würde ihre Familie, selbst wenn die Frau identifiziert worden war, keine Gelegenheit bekommen, sie vor der Bestattung noch einmal zu sehen. Doch der brutale Mörder, der sie getötet hatte, sollte nicht der letzte Mensch gewesen sein, der sie wirklich gesehen hatte.
    Als Carrie es nicht länger ertragen konnte, ließ sie den Blick über das Umfeld wandern. Der Rumpf des Opfers lag in etwa drei Meter Entfernung und war noch mit einem ärmellosen Spitzentop bekleidet. Der Stofffetzen, der die untere Hälfte der Frau bedeckte, oder zumindest das, was davon übrig war, war dunkel und starr vor Schmutz und Blut. Ihre Gliedmaßen fehlten und würden wahrscheinlich irgendwo in der Nähe gefunden werden, ebenso wie der Fuß.
    Die Zerteilung der Leiche war nicht auf ein Tier zurückzuführen. Zumindest nicht auf ein vierbeiniges. Hoffentlich war sie bereits tot gewesen, als der Kerl mit der Verstümmelung begann.
    Das Geräusch von Schritten ließ Carrie herumfahren. Die Spurensicherer suchten sich behutsam einen Weg zu ihr. Joe Mansfield, einer der Forensiker des Justizministeriums, kam als Erster auf sie zu. Jase ging neben ihm.
    „Hey, Carrie“, sagte Mansfield.
    Carrie nickte, und Mansfield redete weiter.
    „Ich habe dich schon lange nicht mehr in McGill’s Bar gesehen. Hast du einen eifersüchtigen Freund oder so?
    Carrie zwang sich, auf Mansfields lässige Art einzugehen. „So ähnlich. Aber mit etwas Glück sehe ich euch bald mal wieder. Wie geht’s Marcie?“
    „Sie ist wieder schwanger. Er fuhr sich mit einer Hand durch das schütter werdende kastanienbraune Haar. „Dieses Mal bekommen wir einen Jungen.“
    „Das ist ja toll. Ein Brüderchen ist genau das, was Lucy braucht.“ Carrie dachte an Mansfields kleines Mädchen, das sie nur einmal auf einem Grillfest der Abteilung getroffen hatte. Es war Mansfields zierlicher, dunkelhaariger Frau bis hin zu den Grübchen wie aus dem Gesicht geschnitten. Ob Mansfield wusste, wie glücklich er sich schätzen konnte?

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