EwigLeid
alles deutete darauf hin, dass Bowers der Embalmer war. Der Mann, der vier Frauen ermordet hatte. Der Mann, der die Polizei so lange an der Nase herumgeführt hatte und nicht zu greifen gewesen war. Und jetzt …
Behutsam tastete Jase nach dem Puls und fand bestätigt, was er längst wusste.
Bowers war tot.
19. KAPITEL
Es war doch wohl nicht recht, den Tod eines Menschen zu feiern, selbst wenn der Tote, der gefeiert wurde, ein Serienmörder war? Die Frage quälte Carrie den ganzen nächsten Tag.
Sie hatte eine Freundin, die stellvertretende Generalbundesanwältin im Justizministerium war. Renee bearbeitete Gnadengesuche, und die Entscheidungsfindung zog sich manchmal über Jahrzehnte hin. Einmal hatte ihre Freundin sie angerufen, um ihr mitzuteilen, dass ein Todeszelleninsasse im Gefängnis gestorben war. Carrie erinnerte sich nicht einmal mehr an die Todesursache. Was ihr am deutlichsten im Gedächtnis haften blieb, war die Erleichterung ihrer Freundin.
Es war doch nicht recht, den Tod eines Menschen zu feiern, selbst wenn der Tote, der gefeiert wurde, ein Serienmörder war?
Carrie feierte genau genommen gar nicht. Es tat nichts zur Sache, dass Bowers ein Mörder war. Augenscheinlich war er ein Mensch gewesen, der von einigen ziemlich mächtigen Gespenstern umgetrieben wurde. Sie hatten keinen Brennofen in seinem Keller gefunden, wohl aber ein halbes Dutzend tiefer Schubfächer von der Art, wie man sie in Filmen sieht, wenn jemand zur Identifizierung eines Toten die Leichenhalle besucht.
Zu ihrer aller großen Erleichterung fanden sich keine Leichen in den Schubfächern. Doch sie fanden Fotos. Abzüge der Fotos, die Bowers an die Polizei geschickt hatte. Fotos von den drei Frauen.
Mary Johnson.
Theresa Steward.
Und Cheryl Anderson.
Er war ein Mörder, ein kluger, bösartiger Mörder, doch jetzt war er tot.
Die Todesursache? Dieser Frage musste der Gerichtsmediziner nachgehen. Bowers war an stumpfer Gewalteinwirkung auf den Kopf gestorben, doch die Wunde war so unspezifisch, dass er genauso gut ausgerutscht sein konnte und mit dem Kopf auf den Fliesenboden des Kellers aufgeschlagen war. Unwahrscheinlich, dochgenauso unwahrscheinlich erschien es, insbesondere angesichts seiner Kleidung, dass jemand Bowers kalt überrumpelt und getötet hatte. Es sei denn natürlich, er hatte einen Partner … Doch auch das war nicht sehr wahrscheinlich. Zum einen wies nichts auf die Mitwirkung eines Partners hin, zum anderen hatten Bowers’ Taten eine eindeutig persönliche Note.
Spekulationen über Bowers’ Motive würden überborden, doch Carrie war davon überzeugt, dass ein Zusammenhang mit dem Tod seiner Schwester Laura bestand, die vor mehreren Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Laura mit dem hellbraunen Haar. Laura, die Lehrerin. Laura, die bei dem Unfall so schwer verletzt wurde, dass ein normaler Trauergottesdienst nicht infrage kam. Kein letzter Abschied im Leichenschauhaus. Konnte es sein, dass Bowers seine Opfer benutzte, ihre Leichen so für die Bestattung herrichtete, wie er Laura nicht hatte herrichten können?
Angenommen, er hatte seine Schwester geliebt, erklärte das natürlich nicht, warum er seinen Opfern Schmerzen zufügte, indem er sie während des Konservierungsprozesses am Leben erhielt, doch eine Erklärung dafür würden sie wohl niemals finden.
Carrie war nur froh darüber, dass Odell Bowers niemandem mehr Schaden zufügen konnte. Doch auch diese Erleichterung war nicht völlig frei von Bedauern. Sie war immerhin auch froh gewesen, Kevin Porter erschossen zu haben, bevor er sie töten konnte, doch sie hatte bedauert, es tun zu müssen. In gleicher Weise war sie froh, wenn sie einen Fall abgeschlossen und einer Person ein gewisses Maß an Gerechtigkeit zukommen lassen hatte, deren Leben entweder beendet oder aufgrund der Nachlässigkeit oder Grausamkeit eines anderen Menschen zerstört worden war. Doch in erster Linie bedauerte sie die Notwendigkeit, diese Gerechtigkeit überhaupt herstellen zu müssen.
Dass sich oft Schuldgefühle unter ihr Bedauern mischten, war ihr gar nicht recht.
In diesem speziellen Fall richteten sich die Schuldgefühle nicht so sehr gegen sie selbst, sondern eher gegen die Gesellschaft im Allgemeinen. Wo hatte sie versagt, sodass Odell Bowers’ Wahnsinn außer Kontrolle geraten konnte? Sodass er sich in ein dunkles, gestörtes Bewusstsein zurückziehen musste? An welchem Punkt genau hörte jemand auf, der problembeladene Heranwachsende zu
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